"CHARLES VI" - 10. April 2005

Jacques Fromental Halévy hat nicht nur „La Juive“ (1835) geschrieben. Autor von zwei Dutzend Opern, einschließlich mehrerer „Opéra comique“, hat er u.a. 1841 „La Reine de Chypre“ mit großem Erfolg produziert und zwei Jahre später eine historische Oper „Charles VI“. Das Libretto ist ein Versdrama der Brüder Germain und Casimir Delavigne, damals die patriotischen Staatsdichter. Die ungewöhnlich lange Oper (mit Ballett ca. sechs Stunden) wurde am 15. März 1843 in einer unglaublich luxuriösen Inszenierung in Starbesetzung uraufgeführt: mit Stoltz/Odette, Dorus-Gras/Isabeau, Barroilhet/Charles VI, Levasseur/Raymond und Duprez/Dauphin. Letzterer fand die Rolle des Dauphin „nicht brillant und angemessen genug“ und weigerte sich bei der vierten Vorstellung zu singen. Die Pariser Oper verklagte ihn, der große Tenor wurde verurteilt, legte Berufung ein, wurde aber dann vom Gericht verdonnert, den Dauphin zu singen!

Die Kritik war ziemlich geteilt, von „un roast-beef monstre“ („La Revue Musicale“) bis „man kann nur Rühmliches über die Oper sagen“ („La Quotidienne“). Jedenfalls fiel dieser anti-englische hyperpatriotische „Schinken“ zur denkbar schlechtesten Zeit, denn es gab wieder einmal politische Spannungen zwischen Frankreich und England, die Louis-Philippe (und sein Außenminister Guizot) und Königin Victoria versuchten, durch gegenseitige Staatsbesuche zu beseitigen und eine Vorläuferin der Entente cordiale (der Ausdruck stammt von Guizot) zu schmieden. Der Höhepunkt der Oper, der Chant national (ein richtiger Ohrwurm „Guerre aux tyrans! Jamais en France, jamais l’Anglais ne règnera!“) wurde ein ungeheurer Schlager, aber wahrlich nicht angetan bei den Politikern anzukommen. Obwohl die Oper in den ersten drei Monaten bereits 25 Mal gespielt wurde, wurde es dann ruhiger und bereits1850 verschwand „Charles VI“ vom Spielplan. Obgleich die Oper selbst im Ausland erfolgreich war (Brüssel 1845, Hamburg 1851, Mailand 1876), blieben verschiedene Wiederbelebungsversuche von kurzer Dauer, und die letzte bekannte Aufführung fand anscheinend 1901 in Marseille statt.

Die Handlung spielt 1415, kurz nach der Schlacht von Azincourt, worauf ein Großteil Frankreichs von englischen Truppen besetzt wurde. Der König Charles VI ist schwer depressiv und verfällt ständig in geistige Umnachtung. Seine Frau Isabeau von Bayern paktiert mit den Engländern, um den Krieg zu beenden und den englischen König Henry V auf den französischen Thron zu setzen. Eine junge Bäuerin, Odette, Tochter des Azincourt-Veteranen Raymond, wird von ihren Landleuten ausgewählt, den kranken König zu betreuen (eine wirkliche Odette de Champdivers war die Favoritin von Charles VI, hatte eine Tochter von ihm und spielte mit ihm Karten). Odette ist allerdings in einen jungen Ritter Charles verliebt, der sich später als der Dauphin herausstellt.

Im 2. Akt spielt Odette mit dem König Karten („la bataille“). Isabeau entreißt dem König die Abdankungserklärung, was sie sofort dem Hofe verkündigt. Im 3. Akt will der Dauphin den Widerstand gegen die Engländer organisieren und seinen Vater sehen, der – am Arme Odettes - ihn aber nicht erkennt. Der Dauphin gibt sich zu erkennen, und Odette beschließt, Vater und Sohn auszusöhnen. Die Krönung von Henry V wird vorbereitet, doch Charles VI nimmt seinen Rücktritt im letzten Moment zurück. Im 4. Akt versucht der Dauphin in den Palast einzudringen um seinen Vater zu befreien. Odette hat eine Vision, daß sie das Werke eines anderen jungen Mädchens (Jeanne d’Arc) vorbereiten soll, um Frankreich vom englischen Joch zu befreien. Isabeau und Count Bedford halten Charles VI vor, sein Wort gebrochen zu haben. Er schläft nach einem Wiegenlied Odettes ein und wird von Geistervisionen geplagt, die Isabeau und Bedford geschickt haben.

Im letzten Akt sind die französischen Truppen sehr deprimiert, doch Odette hat einen Plan, daß alle sich in der Abtei von Saint Denis (die französische Königsgruft) verstecken sollen, um die geplante Krönung Henrys zu vereiteln. Alles läuft bestens, doch Charles VI, wird plötzlich hellsichtig, unterbricht den Kampf und setzt in einer hochdramatischen Szene sterbend den Dauphin als Nachfolger als Charles VII ein, nach Absingen des „Chant national“ und der Prophezeiung der kommenden Retterin des Landes! – Diese einigermaßen ausufernde Handlung ist der Grund für die extreme Länge der Oper. Obwohl Halévy 1847 erhebliche Kürzungen vorgenommen hatte, dauerte die erlebte Aufführung ohne Ballett fast fünf Stunden (mit zwei kurzen Pausen)!

Musikalisch ist die Oper durchaus vertretbar. Eine sehr ausgefeilte Orchestrierung und weitgehende Verwendung von Solobläsern ist zu vermerken. Nach einer sehr düsteren Einleitung ertönt ein Oboensolo, das aber rasch Märschen und recht militärischem Klamauk weicht. Raymond stimmt den „Chant national“ an (der noch öfters vorkommen wird). Ein ausnehmend hübsches Duett zwischen Odette und dem Dauphin wird von einer Bravourarie des Tenors abgelöst. Die Oboe kommt noch mehrmals als Solobegleitung zum Zug, u. a. in einer fulminanten Arie Isabeaus im 2. Akt, die nur aus Vokalisen besteht. Mit Solobegleitung – diesmal der Trompete – ist auch die Kartenszene. Ungemein dicht und dramatisch ist der Monolog des Königs in geistiger Abwesenheit. Geht richtig unter die Haut! Die Rollen sind durchwegs ausgesprochen dankbar und brillant. Zahlreiche, durchwegs mitreißende Arien, Duette, Terzette, Ensembles – öfters mit Chor – sind sehr effektvoll, die Musik ist oft schmissig – und man langweilt sich nie.

Pierre JOURDAN war sich von vornherein im Klaren, daß er nicht die spektakuläre Premiere der Oper wiederholen konnte. Er zog es vor, einschlägige Bilder (Gemälde, Kirchenfenster, Skulpturen, Inkunabeln) der Epoche an den passenden Stellen auf den Hintergrund zu projizieren, vor dem der Chor (der ausgezeichnete ORFÉON PAMPELONÉS unter Alfonso HUARTE) stand und nach Bedarf von einer Wand verdeckt wurde. Diese „Billiglösung“ kann man als sehr gelungen bezeichnen, denn sie vermittelte eine glaubhafte Ambiente des 15. Jahrhunderts. Die passenden Kostüme waren sehr ansehbar, vor allem das feuerrote Kleid der Isabeau, aber auch die anderen Sänger waren stilvoll gekleidet.

Die in Compiègne bereits heimische Sängerschar beherrschte wieder die Bühne. Isabelle PHILIPPE als Isabeau ist eine phantastische junge Sängerin, die den französischen Gesangsstil perfekt meistert. In der herrischen Rollen der zwiespältigen Königin war sie auch darstellerisch ausgezeichnet. Ihre Gegenspielerin Odette sang Anne-Sophie SCHMIDT, die der Rolle sehr dramatische Akzente verlieh, vor allem in der großen Szene des 4. Akts, wo sie mit einem Schwert bewaffnet die entmutigten Soldaten mitreißt. Was nicht hinderte, daß ihr Duett mit dem Dauphin sehr lyrisch war, dem Bruno COMPARETTI die Brillanz der Rolle verlieh und einige hohe „C“ in den Saal katapultierte (die Rolle, die Duprez als nicht brillant genug verweigerte!).

Als irrer König Charles VI konnte man Armand ARAPIAN hören, den man zu wenig in Frankreich hört. Er hat vielleicht nicht mehr die Weiche eines Kavalierbaritons, aber stellte ein sehr glaubwürdige Persönlichkeit auf die Bühne. Matthieu LÉCROART erledigte sich mit Brio der Rolle des Raymond, Odettes Vater, und stimmte als Erster den „Chant National“ an. Als Count Bedford war Armando NOGUERA gut am Platze; sein angenehmer lyrischer Tenor war passend für die nicht sehr große Rolle. In den kleineren Rollen waren Mathias VIDAL, Eric SAHLA, Pierrick BOISSEAU, Jean-Loup PAGESY und Stéphane MALBEC-GARCIA passend.

Das ORCHESTRE FRANCAIS ALBÉRIC MAGNARD unter der Leitung von Miquel ORTEGA tat sein Bestes diese physisch sehr anstrengende Partitur mit Erfolg über die Runden zu bringen. Das zahlreiche, oft von sehr weit hergekommene Publikum (viele Deutsche und Engländer) dankte den Künstlern herzlich für diese interessante Entdeckung. wig.