"WERTHER" - 21.Mai 2006

Es ist immer ein großes Vergnügen, das prachtvolle Grand Théâtre in Bordeaux zu besuchen, eines der schönsten Europas. Diesmal gab es Massenets "Wiener" Oper (Uraufführung Hofoper, 10. Februar.1892), sein bestes Werk. Die Librettisten Blau, Millet und Hartmann haben mit Goethe zwar Schindluder getrieben und aus der Geschichte des spleenigen Einzelgängers eine romantische Liebesgeschichte mit zwei Hauptrollen, den Titelhelden und seiner Angebeteten Charlotte, gemacht. Jede Aufführung steht und fällt mit diesen beiden Partien.

Die Besetzung war erstklassig. Gilles RAGON war Werther, der dessen selbstmörderische Besessenheit ausdrucksvoll darstellt. Jahrelang hat er seine Musikalität im schwierigen Barockrepertoire geformt, was seine perfekte Diktion zeigt. Vor einigen Jahren hat er ins klassische und romantische Repertoire umgesattelt. Sein kultivierter und facettenreicher Tenor hat an Schmelz und Kraft gewonnen, sein Spiel ist überzeugend und diskret, ohne Übertreibung, so daß er nun Mozart und sämtliche lyrischen und spinto-Rollen des französischen Repertoires angehen kann (er hat kürzlich Raoul in Meyerbeers "Les Hugenots" in Lüttich gesungen). "Oh nature!" war träumerisch romantisch, aber schlicht, "Pourquoi me reveiller?" wurde ein Triumph des Schöngesangs des Künstlers.

Seine Partnerin war die Spanierin Lola CASARIEGO, eine große, fesche Brünette, mit kräftigem, dunkeltimbrierten Mezzo. Sie spielt die in der kleinbürgerlichen Atmosphäre eingezwängten Charlotte mit Temperament und schönem stimmlichen Ausdruck, wie die sehr ergreifende Briefszene des 2. Akts. Leider hat sie keine gute Diktion, was bei der nicht übertitelten Aufführung störte. Ihren Gatten Albert gab David GROUSSET mit seinem ansprechenden Kavaliers-Bariton und spielte den Beobachter der etwas überspannten amourösen Gefühlsergüsse seiner Frau mit Diskretion.

Sophie, Charlottes Schwester, sang Henrike JACOB fröhlich und ausgelassen mit hübschem Sopran. Der Amtmann war bei Christian TRÉGUIER in besten Händen. Er ist einer der Spezialisten von Comprimarirollen, der in einem altmodischen Rollstuhl mit schöner Stimme über seinen Haushalt regierte. Ivan MATIAKH (Schmidt) und Jean SÉGANI (Johann) sangen brav ihre Trinklieder.

Pascal VERROT dirigierte das ORCHESTRE NATIONAL BORDEAUX AQUITAINE besonders engagiert und arbeitete die Details der sehr differenzierten Partitur gut heraus. Marie-Christine DARRACQ hatte den KINDERCHOR gut einstudiert.

Die Bühnenbilder von Alexandre HAYRAUD waren passend romantisch verspielt, düster oder biedermeierlich. Michel THEUIIL beleuchtete sehr effizient die Szene. Die etwas dumpfe Atmosphäre wurde von den schönen Kostümen, vor allem der Damen (mit fabelhaften Hüten), von Frédéric PINEAU belebt. In diesem sehr passenden Rahmen konnte Jean-Louis PICHON, Direktor des Massenet-Festivals in Saint Etienne und der dortigen Oper, seine Sänger geschickt führen, mit einigen hübschen Ideen. So wird bereits zu Beginn die Ausgrenzung Werthers gut gezeigt: vor dem im Wald erwachenden Werther werden langsam zwei Fenster-Tür-Wände herabgelassen - Werther bleibt draußen.

Das volle Haus applaudierte anhaltend und begeistert. wig.

P.S.: Im Programmheft von "Werther" ist das Plakat der Wiener Uraufführung reproduziert. Alle Sänger sind genannt (u.a. Marie Renard als Charlotte und Erik van Dyck als Werther), aber nicht Regisseur und Austatter, ja nicht einmal der Dirigent! In Paris sind auf den Einzelankündigungen der Opern nur Dirigent, Regisseur und Bühnenbildner genannt, aber nicht die Sänger! Andre Zeiten, andere Sitten!