"DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG" - 17. Juni 2006

Da seit 1990 keine szenische Aufführung der ""Meistersinger" in Paris stattgefunden hat - nur zwei konzertante Aufführungen in der Bastille-Oper vor drei Jahren - wollte ich die Gelegenheit einer Aufführung in Toulouse - noch dazu in brillanter Besetzung - nicht versäumen.

Direktor-Regisseur Nicolas JOEL ist mutig - man kann es auch verrückt nennen - große Wagner-Opern in einem kleinen Haus (weniger als 900 Sitze) zu spielen. Aber wenn es für einen "Ring" ausgeht, kann man sicher auch "Meistersinger" bringen! So hat sich das Capitole in Toulouse zur ersten Wagnerbühne Frankreichs entwickelt! In den "Meistersingern" sind die Probleme allerdings noch größer als im "Ring": große Massenszenen, wie die Prügelszene oder die Festwiese, auf einer relativ kleinen Bühne sind schwer zu realisieren, und weiter muß man ein riesiges Wagner-Orchester in dem kleinen Graben unterbringen. Nicolas Joel hat beide Probleme erfolgreich gelöst. Das Orchester war auf ca. 70 Personen beschränkt, und auf der Festwiese gab es etwas Gedränge, doch die Aufführung war katastrophenfrei.

Das realistische Konzept der Bühnenbildner Jean-Marie STEHLÉ und Antoine FONTAINE war ziemlich ungewöhnlich. Die beiden Kumpane sind ja nicht an ihrem ersten Versuch in dieser Richtung. Bereits vor vier Jahren gab es in Paris eine ähnlich inspirierte Ausstattung für "Die Fledermaus" und vor zwei Jahren einen in Afghanistan spielenden "Barbiere di Siviglia" von den beiden.

Sie haben sicher zwischen Lübeck und Palermo, Lissabon und Krakau Ausschneide-Bogen der lokalen Sehenswürdigkeiten gesehen, die man zusammenkleben und dann auf einem Schrank verstauben lassen kann. Das war Nürnberg in Toulouse. Man fragt sich, weshalb diese bewußt im Stile des 19. Jahrhunderts, etwas verstaubt wirkende, gewollt "altdeutsche" Ausstattung aus Pappe? Als Anspielung auf die Spießigkeit der Nürnberger Gesellschaft? Oder als Protest gegen das Regietheater auf leerer Bühne oder die Ähnlichkeit zwischen der historischen Altstadt von Nürnberg und Toulouse? Denn die größte romanische Basilika Frankreichs steht nur 5 Minuten vom Capitole" entfernt, und mittelalterliche Backsteinhäuser gibt es in Hülle und Fülle rings herum (Deshalb der Name "La ville rose" für Toulouse).

Der Nachteil einer solchen Szenographie ist die Überladung der Bühne. Zumal im 1. Akt das Merker-Gewerk ein zweistöckiges Gestell war, wo der Merker auf einer Leiter hinaufklettern mußte! Die nützliche Fläche der Gasse des 2. Akts war auf ca. 30 qm beschränkt. In der Prügelszene wurde das so gelöst, daß die kreischenden Weiber zwei Stockwerke hoch in die Fenster verstaut wurden! Dafür waren die Kostüme (Gérard AUDIER) ca. 1860, d. h. aus der Zeit der Komposition der Oper, worüber man diskutieren kann. Die Damen trugen überladene, lange Kleider und verrückte Hüte. Das Kleid Evas im 3. Akt war ausgesucht kitschig. Die Meistersinger, in großen, halb bordeaux-roten, halb schwarzen Mänteln, sowie die "Mädchen aus Fürth" kamen auf Festkähnen die Pegnitz entlang auf die Festwiese vor einer riesigen Ansicht des mittelalterlichen Nürnberg. Nicolas Joel mußte in diesem engen Rahmen eine ungewöhnlich dichte und auf den Millimeter präzise Personenführung auf die Bühne stellen. Einige Kollegen könnten sich davon etwas abschauen!

Musikalisch war die Aufführung gut, aber nicht überragend. Pichas STEINBERG war weniger rigoros als an anderen Abenden. Schon im Vorspiel des 1. Akts gab es einige Ungenauigkeiten. Auch die sonst ausgezeichneten Bläser spielten bisweilen unsauber. Trotz Steinbergs meist recht flotter Tempi, fehlte der Prügelszene die nötige Straffheit. Die großen Sachs-Monologe waren dafür gefühlt und tiefgehend, und das Quintett des 3. Akts war wunderbar gesteigert. Der CHOR DU CAPITOLE war großartig unter der Leitung von Patrick Marie AUBERT und Norbert BALATSCH und sang ein ergreifendes "Wacht auf!" in perfekt verständlichem Deutsch.

Die Solisten waren alle sehr gut, manche ausgezeichnet. Alan TITUS als Hans Sachs war stimmlich überragend, stimmgewaltig, verspielt oder träumerisch, wenn passend, wie im Flieder-Monolog oder in seiner Ansprache vor dem Quintett. Seine perfekte Diktion ist besonders zu unterstreichen. Anja HARTEROS, die mediterrane Schönheit mit blonder Perücke, war eine sehr temperamentvolle Eva. Sie sang himmlisch und ließ sich in ihren Ausbrüchen sehr temperamentvoll hinreißen.

Ihr Ritter Walter Stolzing war John TRELEAVEN, ein ausgezeichneter Schauspieler mit einer großartigen Stimme und einem besonders schönem, ausdrucksvollem Timbre. Zu Beginn war er hörbar indisponiert und hatte große Intonationsschwierigkeiten, sang mehrmals zu tief und forcierte in der Höhe. Diese Schwierigkeiten begannen sich langsam im 1. Akt zu lösen, und sein Preislied war großartig. Eine Luxusbesetzung war Rainer TROST als David. Er beherrscht die Rolle stimmlich blendend in allen Facetten und spielt den jungen Burschen in Lederhose mit Leichtigkeit und sehr glaubhaftem Engagement. Auf der Festwiese wirbelt er die Fürther Mädchen durch die Luft!

Eike WILM SCHULTE hat den Beckmesser praktisch europaweit gepachtet und zu seiner Paraderolle gemacht. Daß er den vergrämten Stadtschreiber blendend singt, einschließlich der exponierten Stellen ist ein Genuß. Er beginnt jedoch, in seinem Spiel etwas zu outrieren. Pogner ist auch ein eine Pachtrolle, aber von Kurt RYDL. Er war diesmal in bester Verfassung, und kein Tremolo minderte den guten Eindruck. Selbst in den Höhen ("Eva, mein einzig Kind") war die Stimme überragend.

Robert BORK als Kothner sang die Tabulatur in perfektem Deutsch und mit prachtvollem Baß. Yvonne WIEDSTRUCK war eine sehr attraktive und schön singende Magdalena. Die Meister waren durchwegs gut: Christer BLADIN, Michael NELLE, Kenneth GARRISON, Martin MÜHLE, James ANDERSON, Hector GUEDES, Scott WILDE (auch Nachtwächter) und Meik SCHWALM.

Ein sehr schöner Abend! Das immer sehr enthusiastische Toulouser Publikum war begeistert und feierte alle Künstler mit Überschwang und herzlichem Applaus. wig.