"GENITRIX", Uraufführung - 25. November 2007

François MAURIAC (1885-1970) ist eine literarische und moralische Referenz in Frankreich, in seiner Heimat in Südwest-Frankreich wird er verehrt wie ein Heiliger. Der sehr erfolgreiche Schriftsteller und Dichter erhielt 1952 den Literatur-Nobelpreis und war auch ein bedeutender Journalist. Seine wöchentlichen überaus kritischen "Blocnotes" in der Wochenzeitschrift "Express" haben Generationen politisch beeinflußt. Er war gläubiger Katholik und trat sehr aktiv für die Unabhängigkeit der ehemaligen französischen Kolonien ein. Mauriac wurde in Bordeaux geboren und lebte und arbeitete Jahrzehnte lang in seinem über der Garonne liegenden Landsitz Malagar (bei Langon, 40 km südlich von Bordeaux). Es lag daher nahe, diese in Langon spielende Oper, nach seiner Novelle "Genitrix" (1923), in Bordeaux zur Uraufführung zu bringen.

Daß ein ungarischer Komponist (László Tihanyi, 1956 in Budapest geboren) sich für diesen Text interessiert hat, ist ein bißchen wie wenn ein Spanier ein Kapitel aus Manns "Buddenbrocks" vertonte. Mauriacs psychologisch präzise gezeichneten Figuren dieser scharfen Kritik am ländlichen Kleinbürgertum sind allerdings ungemein bühnenwirksam. Tihanyis Musik ist von Bártok, aber auch von der neueren ungarischen Schule, Ligeti, Kurtag und Eötvös, beeinflußt, allerdings weniger "hart". Sehr realistische Geräusche, wie die vorbeifahrender Züge, werden verwendet. Bei den Klangballungen und der solistischen Verwendung von Holzbläser und Schlagzeug, die die traumhafte Atmosphäre unterstreichen, denkt man an Lutoslawski. Ein Chor hinter der Szene kommentiert die Fieberträume und singt lateinische Hymnen. Die Oper schließt mit einem Gebet Fernands, der von der Stimme Mathildes und lateinischen Chören oratorienhaft ergänzt wird, die an den Schluß von Honeggers "Jeanne d'Arc" erinnern.

Die Handlung von "Genitrix" spielt im Hause der possesiven Mutter Félicité Cazenave, neben dem Bahnhof. Denn die durchfahrenden, haltenden und verschiebenden Züge bestimmen den grauen Alltag der kleinbürgerlichen Familie. Die verwitwete Mutter hat ihren fünfzigjährigen Sohn Fernand immer vergöttert, der seiner Mutter dafür Spinoza und Epiktet vorliest. Von Zeit zu Zeit fährt er für drei Tage nach Bordeaux und geht ins Bordell. Schließlich erliegt er den Verlockungen der jungen Lehrerin Mathilde. Diese Problematik ist charakteristisch für Mauriac, der mehrfach das moralische - und sexuelle - Elend des Klein-Bürgertums seiner Region beschrieb, eine direkte Nachfolge der französischen Sitten-Novellen und Romane des 19. Jahrhunderts, von Montpassant und Flaubert. Doch hier spielt bereits die Psychoanalyse eine erhebliche Rolle.

Die Oper beginnt mit den Fieberträumen Mathildes, die im Kindbett stirbt, nach einer Fehlgeburt. Fernand verfällt in eine krankhafte Vergötterung seiner toten Frau. Seinen Krisenzustand veranschaulichen mehrere Rückblicke, in denen die tote Mathilde erscheint. Fernand erkennt schließlich, daß sein Leben verpfuscht ist und wirft der Mutter ihre Verantwortung an der Lage vor. Für die alte Frau ist das jedoch zu viel, sie stirbt daran. Fernand ist nun mit sich alleine. Er versinkt in einen Fiebertraum, mit oratorienhaften Deklamationen seiner philosophischen Maximen und stirbt mit einem Gebet "Herr, erbarme Dich mein!" Ein sehr eindrucksvoller, packender Schluß!

Die Uraufführung in Bordeaux war von höchster Qualität. Die gesamte Gestaltung war in Zusammenarbeit mit dem Komponisten der Regisseurin Christine DORMOY anvertraut worden, die seit zwanzig Jahren die Theatertruppe Compagnie Le Grain leitet und die auch die Sänger auswählte. Eine nüchterne Einheitsszenographie (MARIOGE) des riesigen Hauses erdrückt buchstäblich die Familie Cazenave. Bisweilen gehen die Jalousien auf und ab, die den Hintergrund für Projektionen des schmiedeeisernen Gitters des Gartens oder alter Briefe freigeben. Oder es wird eine Bank, ein Bett herein geschoben. Und dann hört man die Züge. Die irreale, traumhafte Atmosphäre des Stücks wird durch die passende Beleuchtung (Paul BEAUREILLES) und die bewußt banalen Kostüme (Cidalia da COSTA) noch drückender gezeigt. Das Stück bedarf keiner weiteren Interpretation, Mauriacs Text und Tihanyis Musik sprechen für sich selbst.

Die fünfzig Musiker des ORCHESTRE NATIONAL BORDEAUX AQUITAINE unter der Leitung des Komponisten Lászlo TIHANYI hatten offenbar viel geprobt und waren mit großer Begeisterung am Werk. Es ist ja keine Kleinigkeit, ein solches Werk über die Runden zu bringen. Jacques BLANC sorgte für die perfekte Einstudierung des CHORS DER OPER BORDEAUX, der vom KINDERCHOR ELIANE LAVAIL unter der Leitung von Marie CHAVANEL höchst passend ergänzt wurde.

Hanna SCHAER als Félicité, die kastrierende Mutter, dominierte die Sänger. Diese hervorragende und hoch intelligente Sängerin ist als Interpretin von vielen dramatisch schwierigen Nebenrollen seit Jahren sehr gesucht. Hier konnte sie erstmalig ihr stimmliches und schauspielerisches Talent in einer großen Rolle beweisen. Sie hat die psychologische Komplexität der Rolle völlig erfaßt und teilte diese großartig dem Publikum mit.

Der Bariton Jean-Marcel CANDENOT gab dem Sohn Fernand die Verzweiflung und Intensität des von seiner Mutter tyrannisierten alternden Mannes tiefe Substanz. Die junge Sevan MANOUKIAN stand als Mathilde zwischen den beiden Psychopathen. Mit frischer Stimme und ausdrucksvollem Spiel wußte sie sich zu behaupten. Eine nicht nebensächliche Rolle spielte der Hausarzt Duluc, der sozusagen als Gewissen wie ein griechischer Chor das Geschehen kommentierte. Christophe BERRY wußte diese nicht sehr dankbare Rolle mit seinem gut geführten hohen Tenor glaubhaft zu gestalten.

Denise LABORDE gab als Haushälterin Maria mit gesundem Hausverstand im Dialekt der Gascogne ihre Meinung kund, die Félicité aber schon gar nicht schätzt. In den "Flashbacks" gab es kleinere Rollen, die Mutter und Sohn als Kinder zeigten, von Pauline MARTOS und Tomy JARDI passend gespielt, sowie Vincent MARTOS als Marias kleiner Sohn, der brav seinen Katechismus aufsagte.

Diese Oper stellt eine ungewöhnliche Mischung von musikalischer Moderne und volkstümlichem Realismus dar und fand beim Publikum sehr großen Anklang, denn der Applaus war lang und herzlich. Durchaus auch auf anderen Bühnen aufführbar, ohne Ablehnung fürchten zu müssen. wig.