"JENUFA" - 4. März 2007

Zu Ende des 19. Jahrhunderts kamen soziale Fragen immer mehr in Literatur und Kunst zur Sprache, in Romanen (Dickens, Stendahl, Zola) und im Theater (Hauptmann, Ibsen, u.v.a.). In Italien entstand mit dem Verismus eine eigenes Genre der Oper, das nur wenig exportiert wurde ("Tiefland" und "Evangelimann" in Deutschland, "Louise" in Frankreich). Janácek hat eigentümlicher Weise mit "Jenúfa" einen tschechischen Verismus initiiert, während selbst Dvorak sich auf nationale Sagen und Märchen beschränkte. Ohne seine musikalische Erbschaft zu verleugnen, verwendete Janácek literarische Vorwürfe, die aus dem Alltag kamen und in den lokalen Zeitungen standen. Diese eigene Synthese aus volkstümlichen Quellen und Expressionismus hat Janácek in einzigartiger, genialer Weise geschaffen. Daß die Handlung heute vielen Hörern nicht sehr viel sagt, ändert nicht die Tatsache, daß vor 120 Jahren das ewige Problem der "ledigen Kinder" nicht angeschnitten worden war.

Obwohl heute eine richtige Janácek-Woge zu verzeichnen ist, hatten alle tschechischen Komponisten es schwer in Frankreich heimisch zu werden. "Jenúfa" wurde erst 1974 (!) in Lyon in einer französischen Produktion zur Erstaufführung gebracht, "Katía Kabánova" konnte man schon 1968 in Paris sehen.

Die Oper in Nantes hat bewiesen, daß auch ein "kleines Haus" eine erstklassige Aufführung eines so anspruchsvollen Werks zustande bringen kann. Die in der Schweiz und in Frankreich sehr bekannten Regisseure Patrice CAURIER und Moshe LEISER, hatten schon mehrere Produktionen in Nantes gemacht. Sie haben einige erstklassige Sänger für das Projekt gewonnen. Christian FERNOUILLAT schuf ein einfaches, der tragischen Handlung entsprechendes Bühnenbild, das aus dunklen Wänden, einer praktikablen Fensterwand und ein paar Versatzstücken bestand. Für die mährische Umgebung passend, hatte Agostino CAVALCA hübsche folkloristische Kostüme entworfen. Christophe FOREY beleuchtet die ganze Szenerie sehr treffend. In diesem kongenialen Rahmen konnten die Regisseure die ausgezeichneten Sänger durch die einigermaßen wirren Verwandtschaftsverhältnisse der Familie Burya führen.

Olga GURYAKOVA in der Titelrolle hat bereits vor mehreren Jahren als "Rusalka" und als Natascha Rostova in Prokofieffs "Krieg und Frieden" in der Bastille brilliert. Sie scheint nicht gealtert zu sein, denn jugendlich und gertenschlank gab sie der ausdrucksvollen Rolle nicht nur die stimmliche Kraft und Dramatik, sondern auch eine sehr intensive Darstellung. Wenn die Küsterin ihr den Tod des Kindes verkündigt, läuft es einem kalt über den Rücken.

Als Küsterin, die mit ihren Vorurteilen nur Unglück anstiftet, weil sie unbedingt den Ruf ihrer Ziehtochter retten will, war Kathryn HARRIES ungemein eindrucksvoll. Ihre dunkle hochdramatische Stimme trägt in allen Lagen und ihre Darstellung der von der Nachrede der Nachbarn gepeinigten Frau ist erschütternd. Wenn sie z. B. Steva auf den Knieen bittet, Jenúfa doch zu heiraten.

Brandon JOVANOVICH als Steva sang prächtig und spielte den umschwärmten Land-Schönling sehr treffend. Der treue Laca ist eine psychologisch und gesanglich schwierigen Rolle; Richard BERKELEY-STEELE mit sehr heldischer Stimme gab ihm menschliches Profil, ohne lächerlich zu wirken. Sheila NADLER war als Großmutter Buryanova passend.

Dem Müllersknecht und dem Bürgermeister gab Frédéric CATON das richtige Profil, Linda ORMISTON war sehr treffend als seine schnatternde, angeberische Gattin und Virginie POCHON ebenso als die geschwätzige Tochter Karolka. Edita FERENCIKOVA als Magd und Cécile GALLOIS als Barena waren rollendeckend. Laurence MISONNE spielte den jungen Jano mit passender Naivität.

Das ORCHESTRE NATIONAL DES PAYS DE LA LOIRE war in bester Verfassung unter der umsichtigen Leitung von Mark SHANAHAN und folgte ihm enthusiastisch durch die Tücken der ungewohnten Partitur. Der Dirigent leitete die Sänger sehr aufmerksam und war hörbar bemüht das große Orchester nicht zu laut werden zu lassen für das eher kleine Théâtre Graslin. Deshalb wurde die Oper auch nicht in dem viel kleineren Theater der Partnerstadt Angers gespielt; die dortigen Abonnenten wurden per Bus nach Nantes gefahren.

Gleich zwei Chöre waren für diese Produktion aufgeboten worden: der lokale CHOR D'ANGERS-NATES-OPÉRA (Leitung Xavier RIBES) und der CHOR DE L'OPÈRA DE MONTPELLIER (Leitung Noelle GÉNY). Beide Chöre sangen mit sicht- und hörbarer Begeisterung und wurden von den beiden Regisseuren sehr aktiv spielend eingesetzt.

Das Publikum war begeistert und feierte alle Künstler stürmisch. Eine ausgezeichnet, sehr schöne und gelungene Aufführung! wig.