"PIQUE-DAME" - 10. Februar 2008

In der Opernliteratur gibt es einige weibliche Rollen, die erst nach jahrzehntelanger Karriere zugänglich werden. Die meisten dieser Monsyrt-Rollen findet man im slawischen Repertoire, vor allem bei Janá?ek. Die wohl prominenteste dieser Figuren ist jedoch die alte Gräfin in "Pique Dame", Tschaikowskis Meisterwerk. Die Rolle ist stimmlich zwar nicht sonderlich anstrengend, bedarf aber einer hervorragenden Sängerpersönlichkeit. Nach über vierzig Jahren auf der Bühne hat nun Raina KABAIVANSKA vor drei Jahren diese Rolle in Neapel in die lange Liste ihres Repertoires aufgenommen. Die bulgarische Sängerin bewies erneut, daß sie zu den großen Figuren der Opernszene der letzten Jahrzehnte gehört. Ihre perfekte Technik beweist sie alljährlich in vielen Masterclasses und hier in dem französischen Lied von Grétry. Diese Erfahrung erlaubt ihr auch, die komplexe Rolle mit großer Finesse darzustellen. Ihre Bühnenpräsenz war ungemein eindrucksvoll, sei es in einer riesigen schwarzen Robe mit einer riesigen gepuderten, über 30 cm hohen Perücke und unglaublichem Dekolleté, als "alter Drachen", die ihre Enkelin Lisa ständig überwacht, oder kahlköpfig in ihrem Schlafzimmer vor der Erpressungsszene im 2. Akt, wo sie ihr Personal herumjagt, und vor allem zuletzt als Erscheinung, welche Hermann die drei Karten nennt.

Sie war von ebenso ausgezeichneten Sängern umgeben. Vladimir GALOUZINE sang Hermann, seine Paraderolle, noch intensiver, aber auch gequälter, als vor einigen Jahren in der Bastille. Seine Stimme hat an Kraft gewonnen, ein richtiger Heldentenor, und darüber hinaus ein phänomenaler Darsteller, der die Gestörtheit und den von Beginn an lauernden Wahnsinn (über die Sicht des Regisseurs kann man aber geteilter Meinung sein) grandios vermittelte. Umwerfend! In der Pause konnte ich ein Gespräch überhören "Wann wird er Tristan singen?"

Als Lisa war Barbara HAVEMAN zu erleben, die eine jugendlich-dramatische, kraftvolle Stimme mit strahlender, etwas scharfer Höhe besitzt. Die überaus gefühlvolle Holländerin wirkte zunächst sehr jungmädchenhaft und entwickelte sich dann zu einer ausdrucksvollen, rasch gereiften jungen Frau. Das Duett zwischen Lisa und Hermann in der vorletzten Szene (an der Newa, siehe unten) war der Höhepunkt emotioneller Kraft und Intensität.

Auch die Nebenrollen waren ausgezeichnet besetzt. Als Fürst Jeletzki war Vladimir CHERNOV der personifizierte russische Adel und sang seine Liebeserklärung an Lisa mit prachtvollem Baß. In der Spielszene zeigte er, daß er weiß, was er will. Boris STATSENKO als Graf Tomski war ein hoheitsvoller Offizier, der sich seines Freundes Hermann väterlich annahm, aber auch das zynische Trinklied im letzten Bild mit schönem Kavaliersbariton vortrug.

Sehr hübsch sang die junge Varduhi ABRAHAMYAN das traurige Lied der Pauline, und als Gouvernante kommandierte Carolin MASUR die jungen Damen des Hauses, sich nicht so vulgär russisch zu benehmen. Elena POESINA war eine charmante Mascha/Chloé. Weiters waren Vladimir SOLODOVNIKOV (Tschekalinski) und Balint SZABO (Surin) sehr spöttisch Hermann gegenüber, während Kyung IL KO (Narumov) und Martin MÜHLE (Tschaplitski) Hermann zum Spielen provozierten. Antoine NORMAND was als steifer Zeremonienmeister zu hören.

Der riesige Erfolg der total ausverkauften Aufführungsserie hatte noch einen anderen "Zeremonienmeister" - am Dirigentenpult: der junge Tugan SOKHIEV stammt, wie sein Kollege Valery Gergiev, aus Ossetien und ist seit zwei Jahren "erster Gastdirigent" des ORCHESTRE NATIONAL DU CAPITOLE. Er hat sich als "Chef" in Toulouse sehr beliebt gemacht. Seine außergewöhnlich dramatisch intensive, aber auch sehr differenzierte Leitung war maßgeblich für die Einheit und den Erfolg der Aufführung. Er weiß sowohl die großen Ausbrüche zu steuern, ebenso wie er die Oboen und Streicher in den nostalgischen Momenten singen zu lassen. Ein großes Talent! Sehr ausgewogen waren der CHOR und KINDERCHOR des Capitole, fabelhaft einstudiert von Patrick Marie AUBERT.

Die nüchternen Wände von Alessandro CAMERA verwendete Arnaud BERTRAND als Rahmen für seine etwas fragwürdige Inszenierung. Absolut unverständlich war das Pastoral-Intermezzo des 2. Aktes, das in einer ärmlichen Wohnung des heutigen Rußlands mit primitivem Schwarz-Weiß-Fernseher und schäbigen Möbeln spielte. Das ganze Werkel wurde aus der Versenkung gehoben und verschwand auch dorthin. Plutus wurde zwar von Tomski gesungen, aber von Jeletzki gespielt, während Hermann den Daphnis mimte. Die nicht sichtbaren Solisten sangen die Szene von der linken Proszeniumsloge aus, und der Chor kam aus dem Orchestergraben. Eine weitere skurrile Peinlichkeit bildete die lächerliche Erscheinung von Zarin Katharina auf dem Ball in der Person eines dicken Mannes in einer durchsichtigen weißen Reifrobe mit einer idiotischen Krone!

Das dramatische Treffen zwischen Lisa und Hermann spielte nicht am Ufer der Newa, sondern in einem Duschraum der Kaserne, wo Hermann zuerst in einer der Kabinen kauerte. Lisa ertränkte sich offenbar unter einer der Duschen. Eine ähnliche neue Marotte war schon in der Marthaler-Inszenierung von "Katia Kabanova" in der Bastille zu sehen: Katia beging da Selbstmord im Planschbecken eines verkommenen Sozialwohnbaus. Es war auch nicht klar, weshalb das 1. Bild in einem Fliesen-Salon mit einem großen Marmor-Kamin spielte und nicht auf einer Promenade oder in einem Park. Die Fliesen waren sonst auch überall, während der Kamin später hochgezogen wurde. Das Gemach der Gräfin geriet noch am passendsten, obwohl auch hier auf der rechten Hälfte die Badezimmer-Atmosphäre vorherrschte.

Eine gute Idee war die Gräfin im 1. Bild des 3. Aktes von einer Krankenbahre aufstehen und Hermann erscheinen zu lassen. Der Spieltisch der letzten Szene erwies sich ebenfalls als Bahre. Das darüber gespannte grüne Tuch des Spieltisches wurde zum Leichentuch Hermanns. Sein Selbstmord war wenig dramatisch: er warf sich auf den Spieltisch und schoß sich lautlos eine Kugel ins Herz. Der im Programmheft abgebildete Max Lorenz als Hermann starb etwas dramatischer: vor sechzig Jahren sprang er auf den Spieltisch, schoß sich eine Kugel in den Kopf und fiel wie ein Holzscheit herunter. Die Beleuchtung von Patrick MÉEÜS war angemessen, und wechselte zwischen trübsinniger Finsternis und strahlender Ballbeleuchtung.

Die Kostüme von Carla RICONTTI waren passend und kleidsam, sowohl die der Solisten als auch die der Chordamen, denn die Herren waren meist im Frack. Da das mozartische, von der Regie gänzlich verpatzte Pastorale ausfiel, beschränkte sich die Choreographie von Gianni ANTUCCI auf die Ballszene, mit marionettenhaften Bewegungen als mißlungen zu bezeichnen, und die passende Führung der Kinder und Gouvernanten im 1. Bild.

Trotz der Einschränkungen zum Konzept der Inszenierung, war es eine denkwürdige, vom Toulouser Publikum enthusiastisch gefeierte Aufführung. wig.