"OEDIPE" - 19. Oktober 2008

George Enescu (1881-1955) wurde als Bauernsohn in Moldavien geboren und wurde nicht nur ein Wunderkind, sondern auch Komponist und einer der gefeiertesten Violin- und Klaviervirtuosen der Zwischenkriegszeit. Mit vier Jahren erhielt Enescu seine erste Geige. Ein Jahr später wurde er in Bukarest Schüler von Caudella, der selbst Schüler des berühmten belgischen Geigers Vieuxtemps war. Nach zwei Jahren überredete Caudella seine Eltern, den siebenjährigen Buben nach Wien zu schicken. Er wurde Schüler von Joseph Hellmesberger, bei dem er mit seiner Mutter auch wohnte. 1892 gab er mit neun Jahren sein erstes öffentliches Konzert im Bösendorfer-Saal in Wien. Im Konservatorium lernte er Brahms kennen, der den Proben des Konservatoriums-Orchesters oft beiwohnte, und der den Jungen sehr unterstützte. Auf Hellmesbergers Anraten ging Enescu nach Paris, wo er Komposition mit Massenet und Fauré, sowie Violine mit Marsick studierte. Am Pariser Conservatoire lernte er viele seiner späteren Freunde kennen: Florent Schmitt, Maurice Ravel, Charles Koechlin, Alfred Cortot, Jacques Thibaud (der auch Marsicks Schüler war) und viele andere.

Enescu gehört zu den zu Unrecht Vergessenen. Seine einzige Oper "Oedipe", sein "Lebenswerk", an dem er über zehn Jahre gearbeitet hatte, wurde 1936 an der Pariser Oper uraufgeführt - und ist seither nie mehr wieder auf einer französischen Bühne gespielt worden! In Wien war dieses ungewöhnliche Werk vor einigen Jahren auf dem Spielplan (wo ich es gesehen habe). Es ist umso erfreulicher und couragiert von dem - noch - Direktor des Capitole, NICOLAS JOEL, dieses vergessene Werk zur Eröffnung seiner letzten Saison aufs Programm gesetzt zu haben.

Enescus "Oedipe" ist sicher eine der ungewöhnlichsten und schwierigsten Opern überhaupt. Enescu ist in keine Schule, Strömung oder Tendenz einstufbar. Man denkt an einen anderen, nicht einreihbaren, jüngeren Zeitgenossen, Benjamin Britten. Obwohl die Ouvertüre und einige Zwischenspiele an seine Vorbilder und Lehrer Brahms und Fauré erinnern, hört man plötzlich ein Trompeten-Thema, für das selbst Wagner sich nicht geschämt hätte. Es gibt keinerlei arienähnliche Nummern, nur einen freien, bisweilen monodischen Diskurs, pentatonische Monologe, die öfters in Sprechgesang münden. Man kann ganz schwache Anlehnungen an Debussy oder Ravel entdecken, aber keine wirklich markanten Einflüsse sind offenbar, keine Wagnerischen Leitmotive, die den Hörer leiten könnten. Das große Orchester ist durch die ungewöhnlich große Holzbläser-Gruppe von 14 (!) Instrumentalisten (u. a. je vier Klarinetten und Flöten) gekennzeichnet, die sehr reichlich verwendet wird. Die mächtigen Chöre sind äußerst eindrucksvoll.

Edouard Fleg war hauptsächlich als jüdischer Denker und Philosoph bekannt, der 1948 eine "Gesellschaft für die jüdisch-christliche Freundschaft" in Paris gegründet hatte. Fleg schrieb ein ungemein intensives und poetisches Libretto nach den Dramen des Sophokles. Der gereimte Text dieser gräßlichen Handlung gibt der Oper zusätzliche dramatische Kraft. Um die Titelfigur handelt eine Schar sekundärer Personen, die ebenso wie der Held von der Mühle des Fatums und der unverständlichen Grausamkeit der Götter zermahlen werden. Denn die ganze Handlung beruht auf der unerklärten Marotte Apollos, der Laios im Traum befohlen hatte, kinderlos zu sterben. Da Laios jedoch diesen Befehl nicht befolgt hatte, rächte sich Apollo bitter. Drei zentrale, äußerst packende Szenen dominieren die Handlung: die Begegnung und Frage der Sphinx im 2. Akt (die bei Sophokles nur angedeutet ist, aber nicht vorkommt), was stärker als das Schicksal sei, mit Oedipes (richtiger) Antwort: "Der Mensch". Worauf die Sphinx unter hysterischem Geschrei versinkt. Weiters die ungemein dramatische Szene im 3. Akt, in der Teiresias die wahre Person des Oedipe enthüllt und dessen Zusammenbruch besiegelt. Und schließlich die Schlußszene des 4. Akts, in der der geblendete Oedipe mit seiner Tochter Antigone durch Attika zieht und im heiligen Wald stirbt. Eine ganz große, ungemein packende Oper!

Aus Gesundheitsgründen konnte Nicolas JOEL das bereits fertige Konzept der Inszenierung nicht selbst durchführen, und überantwortete sie seinem Assistenten Stéphane ROCHE. Wie sehr oft, zeichneten für das einfache antike Bühnenbild Ezio FRIGERIO und für die - etwas grauen - Kostüme Franca SQUARCIAPINO. Vor einem halbrunden Säulengang sind Stiegen wie in einem Amphitheater angeordnet, meist vom Chor bevölkert. Im 2. Akt erscheint ein dorischer Tempel im Hintergrund. Auch die Behausung der Sphinx am Ende des 2. Akts ist unter dem Halbrund angesiedelt und erscheint auf einer riesigen Säule aus der Versenkung, eingehüllt von schwarzen Flügel- Vorhängen. Die Personenführung ist im Allgemeinen antik und würdig.

Wie meistens in Toulouse war die Aufführung musikalisch ausgezeichnet. Pinchas STEINBERG, hier sehr oft vor allem bei Wagner und Strauss zu hören, gab der äußerst schwierigen und ungewöhnlichen Partitur sowohl Tiefe als auch Durchsichtigkeit und das mit offenbarer Liebe zum Werk. Steinberg führte das ORCHESTRE NATIONAL DU CAPITOLE mit sicherer Hand. Gleich zwei CHÖRE DER OPERNHÄUSER VON TOULOUSE UND BORDEAUX wurden aufgeboten um der äußerst dichten choralen Komposition Rechnung zu tragen. Die beiden Chöre waren von den ihren Chorchefs Patrick AUBERT und Jacques BLANC hervorragend vorbereitet worden, die den großen Chorszenen Wucht und Intensität verliehen.

Die Oper enthält nur eine wirklich große Rolle, Oedipe. Frank FERRARI ist einer der jungen französischen Baritone, die nicht nur stimmlich, sondern auch durch intensives Spiel und persönliche Charaktergestaltung großen Eindruck hinterlassen. Ferrari hat die äußerst anstrengende Rolle mit großer Musikalität und Bühnenpräsenz verkörpert. Sein großer Schlußmonolog war zutiefst erschütternd.

Alle anderen Rollen sind eigentlich nur Comprimari in dieser schrecklichen Geschichte von der Ungerechtigkeit der Götter, alle ausnahmslos ausgezeichnet und vielfach überbesetzt. Allen voran die sehr intensive Jocaste von Sylvie BRUNET, die die unausbleibliche Tragik der Rolle mit ihrem prächtigen Mezzo ideal verkörperte. Tiresias ist der Unheilsbote schlechthin, denn jedes Mal, wenn er auftritt, geht etwas schief, und die Götter sind wieder einmal böse. Arutjun KOTCHINIAN vermittelte diese Macht sehr eindrucksvoll, nicht halluziniert, sondern dank seiner Größe und seines unglaublichen Basses mit überragender Autorität, die keinerlei Widerspruch duldete, eine Bühnenpräsenz ersten Ranges. Wäre ein idealer Pimen!

Weniger groß war der ausgezeichnete Hohepriester von Enzo CAPUANO. Marie Nicole LEMIEUX gab der Sphinx, die Theben bedroht, mit ihrem hysterischen Gelächter ein Kammerstück von stimmlicher Darstellungskraft. Fabelhaft! Am Schluß der Oper wird der geblendete Oedipe von seiner Tochter Antigone in den heiligen Wald in Attika begleitet, von Amel BRAHIM-DJELLOUL mit schöner Stimme und erheblichem Einsatz dargestellt.

Mehrere kleinere Nebenrollen wurden von Maria José MONTIEL (Mérope), Qiu Lin ZHANG (Thebanerin), Emiliano GONZALEZ TORO (Hirt), Harry PEETERS (Phorbas), Leonard PEZZINO (Laïos), Andrew SCHROEDER (Thésée) sowie Jérôme VARNIER (Wächter) passend und rollendeckend dargestellt.

Das Sonntag-Nachmittag-Publikum dankte den Künstlern, besonders Steinberg und Ferrari, mit großem Applaus für die prachtvolle Aufführung. wig.