"DIVINA COME LA POESIA"

Umberto Giordanos Oper "Andrea Chenier" wird leider viel zu selten live gezeigt. An der Musik kann es nicht liegen, denn das Werk gehört mit seinen ausdrucksstarken Melodien unbestritten zu den schönsten des Verismo. Für die Geschichte über den Dichter André Chénier bedienten sich der Komponist und sein Librettist Luigi Illica eines dramaturgischen Tricks, der heute noch in der Filmindustrie gebräuchlich ist. Sie gaben einem Ereignis der Weltgeschichte und seinen teils grausamem Auswüchsen eine (nach-) fühlbare Dimension, indem sie eine Liebesgeschichte hinein projizierten. Liebe, Lust, Leidenschaft und Eifersucht inmitten des blutigen Endes des Absolutismus.

Als erster der Protagonisten dieser Dreiecksgeschichte hat Carlo Gerard seinen Auftritt. Es ist die treibende Kraft der Revolution, verliert aber schließlich, persönlich betroffen, den Glauben an Volksmassen und Gerechtigkeit. Sergey MURZAEV hinterließ einen sehr zwiespältigen Eindruck. Man konnte durchaus hören, daß er über das richtige Material und die notwendigen vokalen Fähigkeiten verfügt (ja, auch ein Bariton darf Piani singen…). Leider machte er davon zu selten Gebrauch. Auch die mimische wie sprachliche Gestaltung ließen etwas zu wünschen übrig, und so geriet sein Gerard zwar über weite Strecken stimmgewaltig, aber leider recht einförmig.

Irene CERBONCINI sang die Partie der Maddalena sehr ordentlich. Es gibt wenig was man an der musikalischen Seite ihrer Interpretation bemängeln könnte. Ihre Stimme ist klangvoll, allen gewachsen und durchaus schön. Allerdings wirkte ihre Heldin zu leidenschaftslos, als das man sie als große Interpretin der Rolle rühmen mag. Vielleicht könnte man die über weite Strecken buchstäblich teilnahmslose Figur als Variante in der Darstellung sehen, doch würde dies weder der Rolle, noch deren Entsprechung in der Musik gerecht werden.

Irgendwie stückkonform war es also am tenoralen Helden, dem Abend revolutionären Charakter zu verleihen, was Robert Dean SMITH erwartungsgemäß aufs Beste gelang. Es war auf den Abend vier Jahre und eine Woche her, daß wir ihn zum ersten und bisher einzigen Mal live als Andrea Chenier gehört hatten. Hörbar weiter an dieser Partie gewachsen, brachte diese szenische Aufführung genau das, was wir uns nach der konzertanten Variante gewünscht hatten: ein leidenschaftliches Rollenporträt in Kostüm und Maske mit genug (Spiel-) Raum für stimmlichen wie darstellerischen Ausdruck par excellence.

Zu keinem Zeitpunkt wird hier gebrüllt oder das Legato vernachlässigt. Hinzu kamen eine hervorragende Sprachbehandlung und Phrasierung, die man von italienischen Muttersprachlern so auch nicht immer hört. Kurz, atemberaubender, italienisch-perfekter Tenorgesang. Wer sollte das zur Zeit besser machen? Intendanten, trauen Sie sich, diesem Wagner-Tenor auch weitere italienische Partien anzubieten!

Deutlich aufgewertet durch eine beinahe permanente Präsenz an Cheniers Seite wurde die Partie Rouchers. Neben den üblichen Auftritten im zweiten und vierten Akt war er auf dem Ball der Gräfin ebenso anwesend wie bei der Gerichtsverhandlung, die das Schicksal seines Freundes besiegelt. Durch unverschämte gute Interpretation seitens André HEYBOER war diese Aufwertung der Figur im hohen Maße gerechtfertigt. Seine charaktervolle Baßstimme, die auf Größeres hinweist, machte aus Rouchers eine vierte Hauptrolle.

Varduhi ABRAHAMYAN (Bersi) ließ bei den ersten drei Tönen aufhorchen, hielt dieses Versprechen dann jedoch im Rest des Abends nicht wirklich ein, sondern klang zu ordinär im Ton. Daniel DJAMBAZIAN (Mathieu) war hingegen eine erfreuliche Begegnung, der neben ausgewogenem Gesang auch sehr lebendiges Spiel zu bieten hatte. Emiliano GONZALEZ TORO klang als Abbé besser als später als Incroyable, die hier eine und dieselbe Person waren (kann man machen, leuchtet aber nicht wirklich ein, der Abbé kennt Maddalena schließlich und müßte Gerard nicht fragen, wie sie aussieht).

Das Wiederhören von Peter EDELMANN bei seinem Auftritt als Fleville war ebenso viel zu kurz wie der das Liveerlebnis mit Stefane TOCZYSKA als Gräfin mit vollständig intakter Stimme, die vom Publikum zu Recht ausgiebig bejubelt wurde. Antoine GARCIN besaß ausreichend Präsenz und die entsprechend herrische Attitüde für den kurzen Auftritt Fouquier-Tinvilles. Bei Maria José MONTIEL (Madelon) dagegen wäre es wünschenswert gewesen, wenn ihre stimmlichen Mittel ihrem übertriebenen Gehabe entsprochen hätten.

Der CHOEUR DE CAPITOL machte seine Sache gut, insbesondere waren einzelne Charaktere gut herausgearbeitet. Das ORCHESTRE NATIONAL DU CAPITOLE spielte animiert, hätte jedoch für den ganz großen Wurf noch einen anderen Dirigenten als Pinchas STEINBERG benötigt. Hier fehlte zum italienischen Fach das letzte Quentchen Leidenschaft.

Die Inszenierung (Jean-Louis MARTINOTY) tat dem Auge nicht weh. Man war nicht zu sehr auf Sozialkritik bemüht, zeigte im ersten Akt aber doch wie sehr der Adel eine Karikatur seiner selbst war, und wies, wenn auch verhalten, auf die Brutalität der Revolution von 1789 hin. Schlußendlich diente alles dem Stück, was mehr ist, als man sonst hin und wieder zu sehen bekommt.

Der stärkte Moment waren die zu den Schlußklängen der Oper auf den geschlossenen Vorhang projizierte Robespierre-Worten "Même Platon a banni les poètes de sa République.", mit denen Illica sein Libretto enden ließ.

Das Schäferspiel-Ballett im ersten Akt wurde amüsant und kurzweilig mittels Marionetten umgesetzt (Choreographie: François RAFFINOT). Die Kostüme (Daniel OGIER) paßten zur Zeit und, obwohl es sich um eine Koproduktion handelte, die zunächst in Nancy zu sehen war, dankenswerte auch zum jeweiligen Sänger. Manchmal sind die einfachsten Lösungen doch die kleidsamsten.

Das Bühnenbild von Bernard ARNOULD kam mit wenigen Requisiten aus. Selbst das gräfliche Schloß war nicht überbordend gestaltet. Die verschiebbaren und regelmäßig verschobenen Wände mochten auf Dauer zuviel des Guten sein, erfüllten aber den Zweck des schnellen Szenenwechsels.

Ein packender Opernabend ist also auch jenseits großer Häuser und ihrer Regieideen zu erleben. Also, bitte mehr davon, mehr "Andrea Chenier"-Aufführungen - und keine musikalischen Schubladen mehr für Heldentenöre! MK & AHS

P.S. Auf der Internetseite des Theatre du Capitole hatten wir keine Möglichkeit zum Kartenkauf gefunden. Doch es war überraschend unkompliziert, diese telefonisch auf Englisch zu bestellen. Es gab eine ausführliche und sehr freundliche Beratung zu den Plätzen, die sich tatsächlich als so gut wie angepriesen erwiesen. Merci beaucoup, Monsieur!