"ANDREA CHENIER" - 1. Februar 2009

1973 wurde Rolf Liebermann als "Administrateur Général" aus Hamburg an die Pariser Oper geholt, die ziemlich herunter gekommen war. Man hat damals hauptsächlich das französische und italienische Repertoire des 19. Jahrhunderts gespielt - meist in vorsintflutlichen Kulissen - und alles wurde französisch gesungen - außer Wagner und - sehr selten - Strauss. Liebermann räumte ziemlich auf und öffnete das Repertoire, vor allem ins 20. Jahrhundert.

Seit Liebermann ist das übliche, populäre Repertoire allerdings verkommen, in erster Linie der Verismus, der - ausgenommen die üblichen Puccini-Opern - nicht mehr gespielt wird. Seit 1975 sind Leoncavallo, Mascagni, Ponchielli, Giordano usw. nicht mehr auf dem Programm der Pariser Oper - und auch kaum anderswo in Frankreich. In den allerletzten Jahren sind einige Aufführungen in der Provinz, vor allem in Südfrankreich, zu sehen gewesen. Es ist daher umso mehr zu begrüßen, daß Direktor Nicolas Joel für seine letzte Saison am Capitole in Toulouse Giordanos Meisterwerk aufs Programm gesetzt hat, eine Oper, die eigentümlicherweise heutzutage vor allem in Deutschland zu hören ist.

Es war ein Zufall, daß ich "Andrea Chenier" (1896) fünf Tage nach "Tosca" (1900) in Bordeaux sehen konnte, was einen interessanten Vergleich ergab. Beide Opern haben Luigi Illica als Autor des Librettos und spielen in der Zeit um die französische Revolution in knappen sechs Jahren Abstand. Illica schrieb, wie sein Vorgänger Eugène Scribe historische Dramen, aber mit näherem Inhalt. Doch aus dem "Nemico de la patria" ("Chenier") ist "Prigioniero di stato" (Angelotti in "Tosca") geworden. Wie rasch die Revolution sich ändert....

Obwohl nur vier Jahre zwischen den Premieren der beiden Werke liegen, ist der musikalische Unterschied nicht uninteressant. Beide Opern beginnen mit ähnlichen wuchtigen Akkorden. Doch die lyrischen Ausbrüche Cheniers und der anderen Sänger sind ungemein "modern" für seine Zeit; Giordano verwendet ziemlich gewagte Akkord-Auflösungen. Das "Improvviso" Cheniers im 1. Akt geht in einem Atem durch ein halbes Dutzend Tonarten. Puccini ist da doch noch "klassischer".

Die Produktion wurde aus Nancy importiert und stammte von Jean-Louis MARTINOTY, einer der besten Opernregisseure überhaupt, dessen Ruf für interessante, durchdachte und sehr schöne Inszenierungen weit über die Grenzen Frankreichs geht. Er hatte für die Bühnenbilder den Maler Bernard ARNOULD engagiert, der die Atmosphäre des Ancien Régime und der Revolution sehr passend veristisch wiedergab. Die Gäste im Salon der Comtesse de Coigny waren nicht Statisten, sondern lebensgroße Pappmaché-Puppen, die die Diener unter den Arm nahmen und plazierten, was die vertrocknete Dekadenz der französischen Aristokratie zeigte. Im 3. Akt dräute eine riesige Guillotine m Hintergrund. Daniel OGIER hatte die durchwegs passenden Kostüme entworfen, die sehr hübsch und ansehbar waren. Die Beleuchtung von Jean-Philippe ROY war differenziert und vervollständigte den sehr positiven optischen Eindruck. Die hübsche choreographische Einlage im 1. Akt war von François RAFFINOT.

Pinchas STEINBERG stand am Pult, der in Toulouse eher für seine hervorragenden Aufführungen von Wagner und Strauss bekannt ist. Ich habe ihn aber bereits mehrmals im italienischen Repertoire in Paris erlebt. Er wußte die veristische, etwas sentimentale Musik mit Schwung heraus zu arbeiten, was das ORCHESTRE NATIONAL DU CAPITOLE mit richtiger Italianità zu Gehör brachte, ohne in Schmalz und Kitsch zu verfallen. Der CHOR DES CAPITOLE, der auch ungemein aktiv spielte, war, wie gewohnt, von Patrick Marie AUBERT hervorragend einstudiert worden.

Die Sänger waren allerdings außergewöhnlich. In der Titelrolle war ebenfalls ein Wagner-Strauss-Spezialist zu hören, Robert DEAN SMITH. Sein Andrea Chenier war der patriotische Poet, der romantische Träumer, wie ihn Giordano vielleicht geträumt hat. Seine lyrischen Ausbrüche hatten Kraft und italienischen Stil, er spielte sehr glaubwürdig und seine italienische Diktion ist ausgezeichnet. Seine Madeleine de Coigny war Irene CERBONCINI, eine sehr attraktive Frau mit starker Bühnenpräsenz, die ihren prachtvollen Sopran zur Geltung brachte. Nach "La mamma morta" erhielt sie Szenenapplaus.

Sergey MURZAEV als Charles Gérard war stimmlich weniger zufrieden stellend. Seine sehr tragende Bombenstimme ist nicht sehr kultiviert und gewöhnungsbedürftig, bisweilen sogar vulgär. Er spielte dafür ausgezeichnet den aufmüpfigen Proletarier, der auch Madeleine liebt und am Ende aber seine Handlungsweise Chenier gegenüber bereut. Stefania TOCZYSKA war großartig, denn sie gab der Comtesse de Coigny selbst in dieser kleinen Rolle Präsenz. Maria José MONTEIL als Madelon konnte einen großen persönlichen Erfolg verbuchen. Für "Son la vecchia Madelon", wo sie ihren Enkel dem Vaterland opfert, wurde sie sehr applaudiert. Varduhi ABRAHAMYAN war als Bersi in einem besonders hübschen kleidsamen Kostüm bestens am Platze.

Die Sänger der Nebenrollen waren nicht nur rollendeckend, sondern hatten diese bisweilen sehr treffend gezeichnet: Peter EDELMANN (Fléville), Emiliano GONZALEZ TORO (Abbé/ein Incroyable), Daniel DJAMBAZIAN (Mathieu), André HEYBOER (Roucher), Antoine GARCIN (Fouquier-Tinville) sowie Reik FREULON (Dumas, Schmidt und Haushofmeister).

Das sängersüchtige Publikum in Toulouse war begeistert und gab seine Freude an dem schönen Abend durch zahlreichen Szenenapplaus und viele Vorhänge am Schluß kund. wig.