"DIALOGUE DES CARMÉLITES" - 29. November 2009

Noch einmal Revolution, aber diesmal die "echte", die französische Revolution mit der historischen Geschichte der sechzehn Karmeliterinnen von Compiègne, die am 17. Juli 1794, knapp vor Ende der "Terreur" guillotiniert wurden. Gertrud von LeFort, die zum Katholizismus übergetretene deutsche Schriftstellerin, die mit vielen französischen katholischen Intellektuellen in Verbindung war, u. a. Claudel und Bernanos, schrieb 1931 darüber eine Novelle "Die Letzte am Schafott". Von Georges Bernanos 1947 als Theaterstück (deutsch "Die begnadete Angst") und Filmszenario adaptiert, wurde das Libretto für die Oper vom Dominikaner-Pater R.-L. Bruckberger und Philippe Agostini verfaßt. Poulenc schrieb die Oper zwischen 1953 und 1956 in ziemlich kurzer Zeit, die aber von längeren depressiven Perioden unterbrochen waren. Ein Besuch 1935 im Wallfahrtsort Rocamadour hatte seine Religiosität wieder entfacht, was seine zahlreichen religiösen Werke in seinem Schaffen erklärt. Der Uraufführung an der Mailänder Scala am 26. Jänner 1957 (auf Italienisch) folgte am 21. Juni 1957, die französische Erstaufführung an der Opéra de Paris unter Pierre Dervaux.

Obwohl Poulenc kaum formelle Musikausbildung hatte (grad sechszig Kurse mit Charles Koechlin), wurde er sehr jung in den Kreis der "Six" aufgenommen (Auric, Durey, Honegger, Milhaud, Tailleffere). Hauptsächlich von Debussy und Ravel beeinflußt, die er aber immer "überwinden" wollte, der deutschen Musik und besonders Wagner völlig ablehnend gegenüber stehend, war Poulenc immer von der Klarheit der Sprache besessen. Aber seine Dramaturgie war nicht von der "Tragédie lyrique" von Lully über Rameau und Gluck bis Berlioz inspiriert, sondern eher von der Poesie. Er hatte ja u. a. auch sehr viele "Mélodies" geschrieben, davon allein mehr als neunzig für seinen Freund, den Bariton Pierre Bernac.

Diese sprachliche Finesse und Transparenz ist allerdings schwer mit der dramatischen Intensität der Tragödie der Karmeliterinnen vereinbar. Auf langen Strecken, besonders in den Ansprachen der Priorinnen, herrscht eine an Sprechgesang erinnernde, oratorienhafte Prosodie vor, bisweilen von spektakulären Ausbrüchen unterbrochen. Die ursprüngliche Verfilmung des tragischen, aber eher linearen dramatischen Stoffes spiegelt sich auch in der Oper wieder und eine gewisse filmische Übertragung ist zu erkennen. Obwohl einige sehr intensive orchestrale Elemente - wie das ostinate Motiv, das bereits zu Beginn zu hören ist und mehrmals wieder vorkommt- das Werk zeichnen, sind auch veristische Anklänge zu finden: das vom Chevalier de la Force im Duo mit seiner Schwester Blanche mehrmals intonierte Motiv könnte man auch bei Puccini, Mascagni oder Giordano finden. Poulencs Vorliebe für Holzbläser gibt Anlaß zu mehreren Soli von Klarinette, Oboe, Flöte und Fagott.

Die Aufführung war eine Wiederaufnahme der Produktion von 1997 in der Halle au Grain, dem Konzertsaal von Toulouse und Ausweichquartier des Théâtre du Capitole während der Restaurierungsarbeiten des Bühnenbodens (1997 war es der Schnürboden). Das sechseckige Gebäude von 1864 war die Getreide-Börse und wurde 1968 auf Betreiben von Michel Plasson (langjähriger Chef des Orchestre du Capitole) in eine Konzertarena - ähnlich der Berliner Philharmonie - mit ausgezeichneter Akustik verwandelt, die seither das Heim des Orchestre du Capitole ist. Da es eben ein Konzertsaal und kein Theater ist, ist deshalb die Szenerie beschränkt, was bei diesem oratoriumartigen Werk kaum stört.

Die von Stéphane ROCHE wieder aufgebaute Inszenierung des Ex-Direktors Nicolas JOEL ist daher von der Szenographie (und den klassischen Kostüme) des 1999 verstorbenen Hubert MONLOUP abhängig: eine Seite des Sechsecks ist in eine Bühne verwandelt, und das Orchester sitzt in der Mitte des Saales. Der Hintergrund der Bühnen-Wand besteht aus fünf stilisierten gotischen Bögen, durch die die Nonnen auf- und abgehen. Die Chor-Massen der Revolution werden durch den gegenüber liegenden Haupteingang des Saales eingeschleust. Für die passende Beleuchtung zeichnete Allain VINCENT.

Die Aufführung war ausgezeichnet und das ORCHESTRE NATIONAL DU CAPITOLE unter der Leitung von Patrick DAVIN zeigte sich von der besten Seite. Der junge Dirigent ist Schüler von Pierre Boulez und Peter Eötvös und deshalb ein Spezialist des 20. Jahrhunderts. Er machte aus der zwar komplexen, aber nicht immer tief greifenden Musik eine packende Tragödie. Der CHOR DES CAPITOLE (Leitung Alfonso CAIANI) machte seine Sache in den wenigen Auftritten sehr gut.

Eine hervorragende Besetzung war aufgeboten worden. Die Hauptfiguren dieses Dramas sind hauptsächlich Frauen. In erster Linie die Zentralfigur, Blanche de la Force, mit der sich Poulenc in hohem Masse identifiziert hatte (er hatte die Rolle für Denise Duval geschrieben). Für diese schwierige Rolle wurde eine Sängerin gewonnen, die sehr viel Barockmusik gesungen hat und sich auch in zeitgenössischer Musik einen guten Namen gemacht hat. Sophie MARIN-DEGOR bot eine erschütternde Gestaltung der äußerst anspruchsvollen Rolle. Sie maß sich dabei vor allem an Sylvie BRUNET, der Priorin des Carmel, Madame de Croissy, eine große Tragödin, die in den letzten Monaten durch einige hoch interessante Auftritte ins Rampenlicht getreten ist. Ihre Agonie und Todesahnungen ließen die Besucher der Vorstellung nicht unberührt.

Der neuen Priorin, Madame Lidoine, verlieh Isabelle KABATU sowohl Menschlichkeit als auch Strenge. Als Mère Marie de l'Incarnation, die Verwalterin des Klosters, war die dänische Mezzosopranistin Susanne RESMARK nicht nur stimmlich und darstellerisch ausgezeichnet, sondern sang auch in perfektem Französisch. Als das Naturkind Soeur Constance de Saint-Denis, das naiv und fröhlich einige, bisweilen sehr tief gehende Wahrheiten zum Besten gibt, war Anne-Catherine GILLET sehr gelungen und perfekt am Platze. Von den weiteren Nonnen fügten sich Qiu Lin ZHANG als Mère Jeanne de l'Enfant-Jésus und Catherine ALCOVERRO als Soeur Mathilde gut in die Reihen der Karmeliterinnen ein.

Die Herren waren durchwegs ebenfalls richtig am Platze, denn die "Hauptrollen" waren fast überbesetzt. Vor allem war Gilles RAGON mit durchdachter Interpretation und klugem Spiel stimmlich und darstellerisch ein hervorragender Chevalier de la Force, der seine Schwester Blanche aber nicht überreden konnte, den Carmel zu verlassen. Als Vater, Marquis de la Force, war der junge Nicolas CAVALLIER ein perfekter Aristokrat bis in die Fingerspitzen. Léonard PEZZINO war als Beichtvater der Karmeliterinnen zu hören, den man auch schon in größeren Rollen gesehen hat.

Yves BOUDIER sang den Arzt, Monsieur Javelinot, der die Priorin Madame de Croissy behandeln soll. Danial DJAMBAZIAN (Offizier), Christophe MORTAGNE und Paul KONG (Polizeikommissare), Olivier GRAND (Gefängniswärter) und Bruno VINCENT (Lakai) vervollständigten die ausgezeichnete Aufführung.

Trotz der tragischen und dramatischen Handlung feierte das volle Haus die Künstler enthusiastisch. wig.