"FIDELIO" - 23. Mai 2010

Wenn man schon nach zehn Minuten der Meinung ist, daß man mit der DVD und einem Keks einen angenehmeren Abend verlebt hätte, dann ist das ein schlechtes Zeichen. Die verbleibenden 130 Minuten haben daran auch wenig geändert...

Die Kombination aus Inszenierung und schwer verständlichem Programmheft gibt einem das dumme Gefühl, daß der Regisseur Robert TANNENBAUM einfach entschieden hatte, daß ihm die ursprüngliche Handlung der Oper zu simpel sei. Das Ergebnis ist eine Aufführung, die den Zuschauern wahrscheinlich unglaublich viel mitteilen möchte - aber ich versteh sie nicht!

Das fängt damit an, daß sich die sechs Hauptfiguren die gesamte Zeit auf der Bühne befinden und mit Ausnahme Pizarros auch dann, wenn sie eigentlich nicht anwesend sein sollten, mit den Anderen interagieren. Leonore sollte eigentlich nach dem ersten Auftreten Pizarros längst wissen, wo ihr Mann ist; Florestan (im Rollstuhl) hört das ganze Komplott im ersten Akt mit an und zeigt sich im Zweiten trotzdem überrascht. Leonore versucht sogar, bereits am Anfang Pizarro zu erschießen, wird aber von Jaquino und Marzelline daran gehindert; Marzelline ist in der Kerkerszene anwesend und stürzt sich nach Leonores Enthüllung über ihre wahre Identität auf sie, wodurch Pizarro noch einmal kurz die Oberhand gewinnt, bis sich dann auch Rocco und Jaquino einmischen. Schlägerei!

Der Chor steht im ersten Akt in seltsamen Kostümen auf einer Empore oberhalb der Bühne und fungiert von dort aus sowohl als Chor der Soldaten als auch als Chor der Gefangenen. Ich habe neben mir jemand sagen hören, dass der Chor diverse berühmte Sänger und Komponisten darstellen sollten und daraufhin tatsächlich einen möglichen Beethoven entdeckt, und jemanden, der die Frisur mit Sir Simon Rattle teilte; aber das war es auch an Ähnlichkeiten. Eine Zopfperücke ist nicht ausreichend zur eindeutigen Identifikation.

Im zweiten Akt tritt der Chor als Premierenpublikum auf. Auch eine Art, ein paar mehr Programmheftchen loszuwerden. Seltsam reagieren darauf die Hauptfiguren: Auf einmal ein Herz und eine Seele stellen sie sich Händchen haltend um Florestans Rollstuhl, als müßten sie ihn vor dem bösen Publikum beschützen. Pizarro hilft ihm sogar auf, als er zwischendurch irgendwann mal aus dem Rollstuhl heraus fällt.

Die sechs Hauptfiguren tragen übrigens samt und sonders gelb. Und ich dachte immer, der Sinn von Uniformen sei, daß man Wärter und Gefangene besser unterscheiden kann.

Mit der Inszenierung kann man ja ungestraft spielen, aber so weit die Gesangstexte abzuändern, hat sich Herr Tannenbaum dann doch nicht getraut. Das Ergebnis: Einige Textpassagen haben mit dem, was wir auf der Bühne sehen, nichts bis gar nichts zu tun. So singt Marzelline, sie "[dürfe] bei der Arbeit nicht zaudern", wobei sie gerade dabei ist, Jacken vom Boden aufzuheben (die am Ende der Ouvertüre einfach vom Himmel fielen), sie in der Mitte zu falten und wieder auf den Boden fallen zu lassen. Arbeit? Definitionssache...

Jaquino singt, er und Marzelline seien alleine, obwohl noch vier andere Leute auf der Bühne stehen; die Gefangenen werden angeblich in den Festungsgarten gelassen, rühren sich aber nicht von der Empore; Rocco singt vom Wert des Geldes, während er gleichzeitig Scheine in kleine Stücke zerrupft. Auf Fernandos "nicht länger kniet sklavisch nieder" möchte man nur "Tut doch gar keiner!" antworten. Und der größte Witz: Florestan singt "die Ketten [seien sein] Lohn"; später steht er "gefesselt, bleich" vor Fernando, der noch etwas später den Befehl gibt, die Ketten abzunehmen. Das sind wirklich unglaubliche Ketten... Vom Zuschauerraum aus sind sie völlig unsichtbar! Gruppenhalluzination der Sänger? Wenigstens spart sich die Inszenierung die mir so verhassten Nebengeräusche, aber die Musik kann es nicht wirklich herausreißen.

Don Fernando (Ks. Edward GAUNTT) und Jaquino (Andreas HEIDEKER) sind beide gut, aber völlig unauffällig. Marzelline (Ina SCHLINGENSIEPEN) ist die erste Katastrophe des Abends. Selbst von der zweiten Reihe aus habe ich sie teilweise sogar während ihrer Arie nicht mehr gehört, so leise singt sie. Dazu kommt eine nicht besonders saubere Artikulation, und damit wird sie zur unverständlichsten Sängerin des Abends. Wahrscheinlich eher Schuld des Regisseurs ist die Tatsache, daß sie, sobald einmal Fidelio versprochen, auf einmal gar nichts mehr gegen die Annäherungsversuche Jaquinos hat und sich von ihm ohne Widerstand in den Arm nehmen läßt.

Leonore (Christiane LIBOR) brachte eine wirklich gute sängerische Leistung auf die Bühne, spielte aber gleichzeitig wie ein Eisblock. Und dabei meine ich wirklich nur Mienenspiel, Gestik und die gesprochenen Dialoge. Wenn man sie singen hört und gleichzeitig auf der Bühne stehen sieht, ist der Gedanke an Playback naheliegend, denn so ausdrucksstark der Gesang, so völlig stocksteif steht sie da und so völlig regungslos bleibt ihr Gesicht. Das absolute Lowlight in diesem Punkt ist die Reaktion auf Roccos "Vielleicht ist er tot". Das darauf folgende "Meint Ihr?" klingt ungefähr so interessiert, als habe Rocco gerade das schöne Wetter kommentiert.

Pizarro (Walter DONATI) ist Leonores genaues Gegenteil. Während er eine schauspielerische Glanzleistung auf die Bühne bringt (zumindest dort, wo ihm das die seltsame Fantasie des Regisseurs erlaubt), ist sein Gesang weit weniger überzeugend. Solange seine Stimme oben bleibt, ist alles wunderbar, aber die tieferen Töne werden dafür schwach und leise. Er klingt, als sei ihm die Rolle einfach zu tief.

Damit bleibt es dem Greis und dem fast Verhungerten den Karren aus dem Dreck zu ziehen... Ulrich SCHNEIDER als Rocco ist für die Rolle mehr als nur zu jung, aber das ist auch meine einzige Kritik an ihm. Er singt und spielt sehr überzeugend, und einer der besten Momente ist sein genervtes Gesicht, als ihn Florestan nach dem Gouverneur des Gefängnisses fragt. Überhaupt hat er eine sehr ausdrucksstarke Mimik. Sehr gut gefallen hat mir, wie er sehr überzeugend Rocco als den kleinen Mann darstellt, der sich plötzlich zwischen zwei Fronten sieht und eigentlich überhaupt nicht Partei ergreifen möchte.

Florestan schließlich war sicherlich der stärkste Sänger des Abends. Zwar beginnt sein Dynamikspektrum frühestens beim Mezzoforte, aber so richtig übelnehmen kann ich ihm das nicht, im Vergleich zu so vielen Negativleistungen auf der Bühne. Thomas PIFFKAs Florestan ist nicht mehr der Mann, der Wahrheit kühn zu sagen wagte, sondern der Mann, den zwei Jahre hinter Gittern zu einem verängstigten Häufchen Elend gemacht haben. Seine Arie ist das absolute Highlight; besonders schön ist hier seine Begeisterung über den vermeintlichen Engel, und so herzzerreißend auch die folgende Ernüchterung, daß es sich um eine Halluzination handelte.

Dem CHOR unter Ulrich WAGNER nehme ich persönlich übel, daß der Anfang von "O, welche Lust" unsauber war. Sie haben sich zwar schnell wieder gefangen, aber so wirklich überzeugend war auch der Rest des Stücks nicht.

Das ORCHESTER unter Christoph GEDSCHOLD lieferte eine saubere Untermalung; einzig die Geigen dürften sich hin und wieder zurücknehmen, und das kleine "p" unter der Notenzeile beachten.

Die Oper endet schließlich damit, daß sich die Sänger wieder in die Position begeben, an der sie zu Beginn standen, ganz als wollten sie uns klarmachen, daß sie bereit seien gerade noch mal von vorne anzufangen. Bitte nicht! Einmal war mehr als genug! NG