"VEC MAKROPOULOS" - 3. Juni 2010

In den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gehörte Karel Capek (1890-1938) zu den vielen angesehenen und ungemein erfolgreichen Autoren, damals genauso bekannt wie Hesse, Mann, Mauriac, Roland oder Zweig und dem Dramatiker Georg Kaiser. Im Gegensatz zu den genannten Nobel-Preisträgern, wurde Capek sieben Male für den Literatur-Nobel-Preis nominiert, bekam ihn aber nie. Capek schrieb phantastische Theaterstücke und Romane und erfand sogar neue Worte, u. a. "Robot". Capek wurde oft - fälschlich - mit Aldous Huxley und George Orwell verglichen. Wie mit dem damals ebenfalls höchst erfolgreichen Georg Kaiser (1878-1945) ist es um Capek sehr still geworden.

Prag hat mit seiner Phantastik bei der Verfassung des Stückes Pate gestanden, sowohl Kafka, als auch das Thema des Golem. Zweifellos ist "Die Sache Makropoulos" eine der prophetischsten Stücke dieser Periode. Mit dem Problem der "ewigen Jugend" und der "Unsterblichkeit" hat sich die Menschheit immer schon auseinander gesetzt. Die Hauptfigur Emilia Marty ist unsterblich, aber muß ihre Unsterblichkeit immer wieder "aufputschen", um über ihre 337 Jahre hinaus zu kommen. Am Ende übergibt sie resigniert das wieder gefundene Rezept der ewigen Jugend an die junge Sängerin Kristina. Dieser Akt stellt eben die Frage: "Wie lange soll der Mensch leben?" Und die Antwort ist: "nicht ewig". Den dramatischen Rahmen für die gestellten, philosophischen Fragen bildet der hundertjahrelange juristische "Fall Makropoulos", wobei sich ja herausstellt, daß beide Kontrahenten, die Prus- und Gregor-Familie, alle Emilias Nachkommen sind. Denn Emilia Marty trieb ihr Unwesen in den mehr als 300 Jahren ihres Lebens bereits als Elena Makropulos, Ekaterina Myshkin, Eugenia Montez oder Elaine McGregor, sowie einigen anderen E. M.-Namen.

Dieses Werk ist heute von besonderer Aktualität, in einem Augenblick wenn in USA gerade angekündigt wurde, daß ein komplett synthetisches Bakterium (Mycoplasma mycoides) hergestellt wurde. In der Juni-Ausgabe des "Scientific American" wird unter den zwölf Umwälzungen der nächsten Jahrzehnte die Klonierung eines Menschen als sehr wahrscheinlich angesehen!

Musikalisch ist Janáceks Alterswerk von besonderer Dichte, ganz in der Richtung der fast gleichzeitigen der "Sinfonietta" und der "Glagolská mše". Anderseits erinnert die intensive Verwendung der Bläser (vier Flöten! usw.) mit ihrer bäuerlichen Dumka-Rhythmen oft an frühere Kammermusik. Die ständige, ostinate Wiederholung des Klopf-Motivs (Vorschlag-Terz-auf, ein Ton höher, Vorschlag-Terz-ab, durch alle Tonarten) wirkt wie ein Herz-Pochen und durchdringt das ganze Werk mit einer ganz besonderen Faszination.

Die Produktion der Oper in Nantes (zwei Mal in Angers wiederholt) im schönen Théâtre Graslin war dem selben Team anvertraut, das 2007 eine hervorragende Produktion von "Jenúfa" gebracht hatte, die mit dem Prix Claude-Rostand als beste französische Opernproduktion des Jahres ausgezeichnet wurde. Die beiden Regisseure Patrice CAURIER und Moshe LEISER haben wieder mit einfachen Mitteln und sehr intensiver Personenführung das phantastische, komplexe Drama dem Publikum nahe gebracht. Das geschickte Bühnenbild war wie 2007 vom Haus-Bühnenbildner Christian FENOUILLAT. Es besteht im 1. Akt (Kolenatýs Kanzlei) essentiell aus verwinkelten dunklen Holzwänden, während der 2. Akt die Hinterbühne des Theaters, in dem Marty auftritt, mit aufgetürmten Kulissen und Versatzteilen zeigt. Umwerfend war der 3. Akt, der im Salon der Hotel-Suite der Diva spielt: einige Säulen und zahllose Koffer in allen Größen, Modellen und Stilen (bei 50 habe ich zu zählen aufgehört!). Die schönen Kostüme von Agostino CAVALCA im Stil der 1920er Jahre waren äußerst passend. Christophe FOREY beleuchtete sehr gut die dubiose "Affäre".

Der irische Dirigent Mark SHANAHAN, der hier auch schon mehrmals zu erleben war und sonst meist an der ENO in London wirkt, war ein weiterer Teilnehmer der "Jenúfa" vor drei Jahren. Mit der Musik des beginnenden 20. Jahrhunderts - und speziell mit Janácek - hat er sichtlich eine eigene Beziehung, denn er bringt die großen Bögen ebenso ergreifend zur Darstellung, wie die ostinaten Pulsschläge. Er scheint hier auch völlig zu Hause zu sein, denn das ORCHESTRE NATIONAL DES PAYS DE LA LOIRE folgte ihm auf jeden Blick. Der ausgezeichnete Chormeister des Hauses, Xavier RIBES, hatte den kleinen HERRENCHOR DER ANGERS NANTES OPÉRA sehr gut vorbereitet. Spezielle Erwähnung verdient die Studienleiterin, Irène KUDELA, zu werden, die hier immer hervorragende Produktionen einstudiert.

Vor drei Jahren war Kathrin HARRIES ebenfalls bereits als erschütternde Kostelnicka zu erleben. Emilia Marty, die einzige wirkliche Hauptrolle ist jedoch viel schwieriger, denn es ist eine dramatische Sopranrolle. Obwohl Kathrin Harries bisweilen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten geht, ist ihre Rollengestaltung und dramatische Ausdruckskraft sehr überzeugend. Ihre Aura der "femme fatale", die alle Männer umspinnt, war hervorragend herausgearbeitet. Ihr Schluß-Monolog war halluzinierend.

In den weiteren Rollen waren meist britische Sänger zu hören, die in Nantes bereits mehrmals gesungen haben. Sehr passend war John FANNING als der eitle - und völlig überforderte - Advokat Dr. Kolenatý, der seinen kräftigen Baßbariton sehr vorteilhaft einsetzte und sich bei jeder Gelegenheit in eine feuerrote Robe kleidete. Sehr ausdrucksvoll war auch Robert HAYWARD als reicher Jaroslav Prus, der seine verpatzte Liebesnacht mit Emilia Marty mit dramatischem Bariton und brutalem Spiel frustriert ausdrückte. Seinen Sohn Janek Prus, einer der Verehrer der Diva, der am Schluß Selbstmord begeht, sang Robin TRITSCHLER mit passender Leidenschaft. Den verwöhnten und nichtstuenden Lebemann Albert Gregor, der Emilia Marty mit seinen Liebesschwüren verfolgt, sang brillant der Tenor Atilla KISS. Den potentiellen Selbstmörder glaubt man dem Ungarn aber nicht.

Beau PALMER besitzt einen hübschen Spieltenor und war ein sehr treffender Hauk-Šendorf, der in Emilia Marty seine verflossene Geliebte Eugenia Montez erkennt und mit ihr durchgehen will. Interessant und sehr intensiv gestaltete die junge Paola GARDINA die Sängerin Kristina, die am Schluß das Rezept des Verjüngungstranks nicht verbrennt, sondern verschluckt; sehr einfach, aber äußerst effektvoll. Vitek, den hoffnungslosen Verehrer Kristinas, sang und spielte Adrian THOMPSON sehr treffend. Eine Stütze des Hauses, Linda ORMISTON, war in den zwei kleinen Rollen der Kammerzofe und der Putzfrau passend. Ebenso wie der Theater-Maschinist von Guy-Etienne GIOT.

Der begeisterte Applaus des vollen Hauses zeigte, daß selbst ein so ungewöhnliches und schweres Werk bei einem breiten Publikum Anklang finden und Enthusiasmus auslösen kann. Großartig! wig.