"VIRGINIA" - 19. Oktober 2010

2008 wurde das Wexford Opera House als eine Vergrößerung des winzigen Theatre Royal eröffnet, das über 50 Jahre lang als Spielplatz für das Festival diente. Der Zuschauerraum leidet zwar nach wie vor an Platzmangel, denn das Theater wurde zwar auf stolze 771 (!!) Plätze aufgestockt, mit zwei Galerien, jede mit weniger als 40 Sitzen. Dafür wurde der Bühnenraum erheblich vergrößert und mit allen technischen Möglichkeiten ausgestattet. Denn im alten Theatre Royal traten sich die Sänger buchstäblich auf die Füße. Die Atmosphäre des Zuschauerraums in mehrfach schattierter Holz-Täfelung ist optisch sehr angenehm, was einen intimen und warmen Eindruck ergibt. Nach wie vor wird vor jeder Vorstellung die irische Nationalhymne vom Publikum stehend auf gälisch gesungen und vom vollen Orchester begleitet. Vorsichtshalber läuft die Übertitelung des gälischen Texts oberhalb der Bühne...

Wir verbrachten drei sehr schöne und erfreuliche Abende in Wexford - noch dazu ausnahmsweise bei sehr schönem Wetter. Mehrere Kammeropern (mit Klavier-Begleitung, ich sah "La Serva padrona" von Pergolesi), Lieder- und Arien-Konzerte zu Mittag in der Kirche Sankt Iberius, sowie abendliche Chor- und Orchesterkonzerte komplettierten das Programm. Wie gewohnt, machte man Bekanntschaft mit ausgezeichneten jungen Sängern und Dirigenten (viele heute sehr bekannte Künstler haben in Wexford ihr internationales Debüt gemacht) und - vor allem - sieht man völlig unbekannte Opern. Wexford ist zwar County-Sitz, aber nur eine Kleinstadt mit etwas mehr als 18.000 Einwohner. Wo gibt es so etwas noch? Und das seit 1951! Beispielhaft! Zumal die Opernkrise in Irland akut ist, denn die "Opera Ireland" in Dublin hat mit "Tosca" im November zugesperrt.

Die meisten der - meist sehr interessanten - Opern werden seit dem 50. Festival 2001 auf CD unter verschiedenen Labels, wie Naxos, Fonè, Marco Polo und Supraphon eingespielt. Ich habe mir um je 10 € zwei Doppel-CDs von Dvoraks "Jakobín" (den ich vor ein paar Jahren hier gesehen habe) und Jaromír Weinbergers "Švanda Dudák" im Foyer des Theaters geleistet. Jedem Liebhaber von Raritäten sehr zu empfehlen!

Saverio Mercadante (1795-1870) war nach Rossini, Donizetti, Bellini und Verdi der bei weitem bekannteste und erfolgreichste Komponist Italiens seiner Zeit (57 Opern und mehrere Flötenkonzerte). In den letzten Jahrzehnten ist es - außer in Wexford - aber sehr still um den Meister aus Apulien geworden. Von seinem nur drei Jahre älteren Landsmann Rossini sehr gefördert hat Mercadante vor allem für das San Carlo in Neapel, La Scala in Mailand und La Fenice in Venedig gearbeitet. Mercadante hat aber auch in vielen anderen Städten Europas, gewirkt, u. a. in Lissabon und Paris, wo seine Oper "I Briganti" in Starbesetzung (Grisi, Rubini, Lablache) 1836 zur Uraufführung kam. In Paris lernte er Meyerbeer und Halévy kennen und war vor allem von "La Juive" sehr beeindruckt. Nebenbei hat Mercadante auch in Wien bereits großen Erfolg gehabt, denn im Herbst 1824 hatte er es zusammen gebracht, in vier Monaten nicht weniger als drei Opern zu komponieren und im Kärntnertor-Theater uraufzuführen!

Das Wexford Festival ist eine Ausnahme, denn dies ist bereits die 5. Oper Mercadantes, die hier gespielt wird. 1988 hatte ich bereits dessen ersten großen Erfolg "Elisa e Claudio" (Scala 1821) gesehen. Seither wurden "Elena da Feltre" (San Carlo 1839), "Il Giuramento" (Scala 1837) und "La Vestale" (San Carlo 1840) aus der Versenkung geholt. Diesmal wurde Mercadantes letzte Oper "Virginia" dem Publikum wieder vorgestellt. 1849/51 auf ein Libretto von Salvatore Cammarano (Librettist vieler Opern Donizettis und Verdis) komponiert, wurde diese aber erst am 7. April 1866 im Teatro San Carlo mit Lotti, Pandolfi, Mirate und Stighelli uraufgeführt. Man darf nicht übersehen, daß diese neapolitanische Uraufführung vor dem greisen, blinden Meister zwischen "Tristan" (1865) und "Don Carlo" (1867) fällt und selbst zur Zeit der Komposition (1851) waren "Lohengrin" und "Trovatore" bereits aufgeführt worden. Die Zeit des Belcantos war schon seit einiger Zeit vorbei, und Rossini hatte sich bereits 1829 nach "Guillaume Tell" zurück gezogen und kochte nur mehr oder schrieb nur mehr seine "Alterssünden" ("Péchés de vieillesse"). Mercadante hatte ja selbst erheblich zum Ende des Belcantos beigetragen. Musikalisch ist diese Oper trotzdem noch dem Belcanto verpflichtet und "Virginia" in vieler Hinsicht eine Kuriosität, denn die klassische Form ist meistens aufgeblättert. Zahlreiche Arien, Kavatinen, Duette etc. beginnen wie in einer Oper der 1820er Jahre, doch das Stück wird oft nicht fertig gesungen, denn bereits ein neues Geschehen unterbricht es. So denkt man öfters bereits an den Verismus wie bei Mascagni, Leoncavallo, Giordano und natürlich Puccini. Die Oper ist "durchkomponiert" und zahlreiche, bisweilen sehr brillante Ariosi bringen die Handlung weiter - was nicht hindert, daß die Oper dreieinhalb Stunden dauert (mit zwei Pausen).

Ein weiterer Aspekt des Werks ist die Größe und Besetzung des Orchesters. Zwischen 1825 und 1850 haben sich die Orchester massiv vergrößert und sind lauter geworden, woran Wagner und Berlioz, aber auch Meyerbeer, Halévy und Verdi nicht unbeteiligt waren. Die Rollen sind deshalb auch viel dramatischer geschrieben als selbst in den Tudor-Opern Donizettis. Die Titelrolle ist nicht nur ein Soprano dramatico di agilità der Zeiten der Malibran, Falcon oder Grisi, sondern mit den großen Verdi-Heroinen vergleichbar, wie Abigail, Amelia, Desdemona oder den zwei Leonoren.

Die Geschichte des Dramas "Virginia" von Vittorio Alfieri (1749-1803), dem Vater der italienischen Tragödie, beruht auf einem Bericht im 3. Buch der "Geschichte Roms" von Titus Livius. Cammarano hat diese einigermaßen blutrünstige Geschichte in ein höchst dramatisches Libretto umgesetzt. Die Handlung spielt 451 v. Chr. während dem 2. Mandat des tyrannischen Konsuls und Decemvir Appius Claudius Crassus, eine sagenumwobene und zwiespältige Figur. Das politische System war de facto eine königliche Autokratie, obwohl die Konsuln nur auf fünf Jahre aus der Schar der zehn Decemvirs gewählt wurden. Appius Claudius gab sich zwar "demokratisch", indem er wieder einen Volkstribun einsetzte, verbot aber die Heirat zwischen Patriziern und Plebejern. Er war aber unklug, sich in Virginia - eine Plebejerin, Tochter des Berufssoldaten Virginio - zu verlieben. Doch Virginia liebt Icilio - eben den von Appius Claudius nominierten Volkstribun. Appio versucht mit Hilfe seines Handlangers Marco, Virginia zu überreden, seine Geliebte zu werden. Doch diese will absolut nicht, auch Drohungen nützen nichts. Die Oper endet schließlich mit drei Toten.

Etwas bedauerlich an der Aufführung war die Lautstärke des sehr gut spielenden ORCHESTRA OF THE WEXFORD OPERA FESTIVAL, die der venezolanische Dirigent Carlos IZCARAY vorlegte, der zwar die Steigerungen der dramatischen Handlung passend herausstrich, aber dachte, daß er im San Carlo dirigierte. Das hatte zur Folge, daß die durchwegs sehr guten Sänger viel zu laut sangen und oft erhebliche Schwierigkeiten hatten die Orchesterflut zu bewältigen. Eine Ohrenweide war dafür der CHOR, von Altmeister Lubomir MATL, dem Leiter des Prager Kammerchors, der zwei Drittel der Choristen stellt, absolut perfekt einstudiert. (Matl leitet im Sommer auch den Chor des Rossini-Festivals in Pesaro.)

Allen voran litt an der Lautstärke die ausgezeichnete, junge, etwas vollschlanke Amerikanerin Andrea MEADE, die bereits an der Met als Elvira in "Ernani" eingesprungen ist. Das hinderte sie nicht, ihre zahlreichen Arien und Ensembles mit fulminanten Koloraturen und die großen Chorszenen mit dominierendem Sopran brillant zu meistern. Den bösen Appio Claudio spielte der Sizilianer Ivan MAGRI als fiesen machtbesessenen Tyrannen, der vor keiner Gemeinheit zurück schreckt. Sein schöner, gut geführter Tenor, in der Art der dramatischen Tenöre Rossinis, litt ebenso an den brausenden Orchesterwogen. Ein spezieller Fall ist der 2. Tenor Icilio, die von Mirate kreierte Rolle, dem der Portugiese Bruno RIBEIRO seine Stimme lieh. Er ist eher ein hochgedrückter Bariton, denn seine Tiefe und Mittellage sind sehr angenehm und gut geführt, während seine Höhen zwar heldisch, aber gestemmt wirken.

Als Vater Virginio zog sich Hugh RUSSEL am besten aus der Affäre. Sein prächtiger Charakterbariton war für diese Vaterrolle ideal. Mit ausgezeichneter Phrasierung sang er die lyrischen Stellen - besonders das Duett mit seiner Tochter im 3. Akt mit Englischhorn-Solo, wo das Orchester etwas diskreter war - mit großer Dichte und Überzeugung, aber ebenso mächtig und durchschlagend in den vielen dramatischen Szenen, vor allem am Schluß in der Verfluchung Appios. Seine Verkörperung des von Appio verfolgten und gepeinigten Vaters war erschütternd. Weniger Mitleid hatte man mit Marco, ein widriger, kaltblütiger Bösewicht, dem Gianluca BURATTO mit mächtigem basso profondo eine sehr passende Gestaltung verlieh, der blindlings seinem tyrannischen König folgt, ein widerlicher Spoletta-Typ.

Der Regisseur der Aufführung Kevin NEWBURY und sein Bühnenbildner (auch Kostüme) Allen MOYER hatten gleich zu Beginn klar gemacht, daß die Handlung nicht vor über zwei Jahrtausenden spielt, sondern in unserer Zeit. Dies ist meist wirklich gelungen, da Korruption und Mord auch heute üblich sind, selbst in angeblichen Demokratien. Der Zeitenwechsel findet bereits in der 1. Szene statt. Beleuchtet wurde das ganze Geschehen sehr treffend von Christopher AKERLIND.

Es beginnt mit einem obszönen Fest - im Stil des "Satyricon"-Films von Fellini - bei dem die Ermordung des vorherigen Konsuls Tarquinius und die Erneuerung der "Demokratie" gefeiert wird. Während Appio Claudio zum neuen Konsul gekürt wird, nehmen drei goldene, nur mit Weintrauben bekleidete Epheben die Chorszene ein (Choreographie: Sean CURRAN). Stier-Köpfe zieren den oberen Teil der Szene (Anspielung an den Mithras-Kult? - der war allerdings 500 Jahre später), die während der ganzen Oper zu sehen sind. Während der Orgie zieht auf der oberen Bühne ein Trauerzug des beliebten ermordeten Volkshelden Dentatus vorbei. Dieser Zug kommt schließlich auf die untere Bühne, und das Begräbnis findet statt. In diesem Moment verwandelt sich die Bühne in die Neuzeit: Appio erscheint in grauem Anzug, Marco und die Häscher ebenso, mit schwarzen Ray-Bans, der Festchor wird ein Trauerchor. Marco raunt seinem Herrn zu, daß seine Versuche gescheitert sind, bei Virginia für ihn Gefühle zu erwecken.

Die 2. Szene findet in der modernen Küche Virginias statt, die den Tod ihrer Mutter beweint. Ihre Freundinnen trauern mit ihr, und sie vertraut ihnen in einer großen Arie ihre Liebe für Icilio an. Sie hat gerade noch Zeit ihre Freundin Tullia, die Marcella WALSH mit hübschem Mezzo darstellte, zu bitten, den Vater im Lager vor Rom zu holen. Da erscheint Appio und erklärt ihr seine Liebe, doch sie weist ihn schroff zurück.

Der 2. Akt beginnt ebenfalls in der Küche, wo Virginio sich freut seine Tochter zu finden, doch ist er einigermaßen überrascht und nicht sonderlich erbaut zu erfahren, daß Appio sich für sie interessiert. Der Vater rät sofort, Icilio zu heiraten und stürmt mit seinem Vetter Valerio, dezent und passend von John MYERS dargestellt, in den Hymen-Tempel, um die Hochzeit vorzubereiten. Die Hochzeit - in einer katholischen Kirche im typisch geschmacklosen Stil von 1870, mit Virginio in großer Offizier-Uniform - wird jähe von Appio, Marco und der Prätorianer-Garde (in Paradeuniform mit Tschako!) unterbrochen. Marco erklärt, daß Virginia die Tochter eines seiner Sklaven sei und der Frau Virginios untergeschoben wurde, die eine Totgeburt gehabt hätte, was Virginio natürlich heftig und lautstark bestreitet. Es gibt, wie zu erwarten, große Aufregung über den unerhörten Vorwurf und der Akt endet mit einem großen Ensemble, in dem die Stimme Virginias alles übertönt - nur mit den großen Ensemble-Szenen von "Don Carlo" oder "Otello" vergleichbar. Appio kündigt die Gerichtssitzung für drei Tage später an.

Im 3. Akt kommt Marco in Appios Wohnung und berichtet, daß er neun Plebejer bestochen habe, um seine Behauptung zu unterstützen. Während dessen will Appio versuchen, Icilio aus Rom zu entfernen, indem er ihn zum Prätor ernennt - was ein Patrizier-Privileg war. Falls das mißlänge, soll Icilio einfach ermordet werden. Natürlich weist Icilio die Ernennung zurück - Appio tobt. Das langsam beginnende Duett zwischen den beiden Tenören steigert sich zu einem der Höhepunkte der Oper, wo Ivan Magri und Bruno Ribeiro zeigen konnten, was ihre Stimmbänder hergeben können. Das erinnert in Wucht, Haß und Steigerung an das Vendetta-Duett zwischen Uberto und Rodrigo in Rossinis "La Donna del Lago". In der vorletzten Szene nach dem prachtvollen Duett an die Hausgötter eilen Virginio und seine Tochter zum Forum, denn sie haben eben von der Ermordung Icilios erfahren. Virginio will Appio zur Rechenschaft ziehen.

In der äußerst dramatischen Schlußszene auf dem Forum wird die Klage Marcos von Appio als gerechtfertigt erklärt, und er stellt die neun gekauften Zeugen vor, was große Bestürzung im Volke auslöst. Als Virginia an Marco ausgeliefert werden soll, erbittet ihr Vater die Gnade sie noch einmal umarmen zu dürfen. Die Bitte wird gewährt und vor Appio und seiner Clique und dem ganzen Volk Roms ersticht Virginio während seiner Abschiedsarie seine Tochter, und die Oper endet mit dessen Fluch: "Appio, il tuo capo sacro all' Averno con questo sangue!" Hugh Russel konnte hier alle Register seiner Kunst zeigen. Der Chor antwortet nur: "Obbrobrio eterno e morte ad Appio!" Die Oper endet mit der Ermordung Appios durch die römische Plebs, was historisch falsch ist, denn Appio wurde - laut Livius - zum Selbstmord gezwungen.

Großer Applaus für alle Künstler. Ein etwas zwiespältiger Eindruck - wegen der Orchesterflut - für ein höchst interessantes Werk, das zwischen zwei musikalischen Epochen steht. wig.