"THE RAPE OF LUCRETIA" - 22. Januar 2011

Britten hatte bereits vor seinem ersten Erfolg mit "Peter Grimes" im Juni 1945 beschlossen, eine Kammeroper zu schreiben. Er beschäftigte sich schon seit einiger Zeit mit der Musik der englischen Madrigalisten des 16. und 17. Jahrhunderts. Wie auch anderswo, war eine Tendenz "back to basics", d. h. zu den antiken Wurzeln, sehr gefragt, wie Orff, Casella, Malipiero, Respighi, Poulenc. Das hat sich in Brittens "Lucretia" niedergeschlagen und auch später in seinen anderen Kammeropern ("The Turn of the Screw", "Curlew River", "Owen Wingrave" etc.). Die madrigalistische Art spiegelt sich auch in der Behandlung der Ensembles nieder, die sehr "tonal" sind - wie das harmonische "Good Night" Sextett am Ende des 1. Akts. Bisweilen monodische Passagen und unisono Ensembles und der essentiell deklamatorische Gesangstil, sowie die äußerst sparsame, sehr prägnante und charakterisierende Instrumentierung (13 Instrumentalisten), ergeben ein sehr dichtes und packendes Werk. Besonders die instrumentalen Zwischenspiele sind von außergewöhnlicher Dichte.

1946 wurde die Oper in Glyndebourne (mit - und für - Kathleen Ferrier in der Titelrolle) uraufgeführt und war auch 1950 bei den Salzburger Festspielen zu sehen (aber mit Elisabeth Höngen).

Das Libretto des englischen Dichters Ronald Duncan ist allerdings etwas mühsam, obwohl der Text teilweise sehr poetisch ist. Nach einem Theaterstück des französischen Schriftstellers André Obey (von 1931), überspringen die Autoren die Zeitspanne zwischen ca. 500 v. Chr. und der Zeit Christi. Dies funktioniert mittels eines "antiken Chors" (bestehend aus einem Tenor und einer Sopranistin), der im Prolog die Vorgeschichte erklärt und dann die Vorgänge beschreibt, aber auch die Gefühle, Selbstgespräche und Marotten der Personen ausdrückt und daher eine tragende Rolle spielt. Die Tenorpartie war für Peter Pears geschrieben.

Allerdings ist im Libretto mindestens ein Aspekt dabei eher zweifelhaft. Der böse Tarquinius Superbus, der 7. und letzte (etruskische) König von Rom, regierte von 535 bis 509 v. Chr. Von Livius wurden die Untaten des sagenumwobenen Tyrannen überliefert. Im Prolog singt die weibliche Coryphée eine sehr poetische, aber sehr gewagte Phrase: "This Rome has still five hundred years to wait / Before Christ's birth and death from which Time fled / To you with hands across its eyes. But here / Other wounds are made, yet still His blood is shed." Nicht nur, daß die Christen im Rom des 1. und 2. Jhdts. eine kleine Gemeinde waren (der sehr viel schreibende Apostel Paulus schrieb nur einen einzigen Brief an die Römer) und wenig öffentlichen Einfluß hatten, wurden sie von den Cäsaren verfolgt und dienten meist als Prügelknaben für alle Übel, die Rom befielen und wurden dafür verantwortlich gemacht. Was meistens damit endete, daß ein Dutzend Christen im Kolosseum den Löwen vorgeworfen wurden.

Auch die Identifizierung Lucretias als eine christliche Leidensfigur ist sehr gewagt, was zu pietistischen Ausbrüchen führt, die 100 Jahre vorher Gounod oder Fauré nicht gescheut hätten. Lucretia ist wohl eher eine kompromiß- und zeitlose Moral-Figur des Widerstands gegen jegliche Gewalt (Britten war Pazifist und verbrachte den Krieg im Exil in USA). Lucretia als christliche Leidensfigur darzustellen und eine Verbindung mehr als 500 Jahre vorher, ist wohl bei den Haaren herbei gezogen. So hängt der - sehr schöne und ergreifende - Schlußgesang der weiblichen Coryphée "Is it all? Is all this suffering and pain / Is this in vain?" irgendwie in der Luft. Denn das vom Prädeterminismus beeinflußte Libretto führt unweigerlich zu dem fatalistischen verzweifelten Trauer-Schluß: "Now with worn words and these brief notes we try / To harness song to human tragedy."

Trotzdem war es eine gute Idee der Angers-Nantes-Opera die Produktion des Flandrischen Opernstudios einzuladen, die zwar schon aus dem Jahre 2000 stammt, aber sehr packend und gelungen ist. Daß die Inszenierung dem Regisseur Carlos WAGNER anvertraut wurde, war ein Gewinn, denn er ließ die genannten Zeitensprünge schlicht und einfach fallen. Er hatte sich sichtbar den Figuren der Handlung angenommen und durch eine ausgezeichnet Personenführung sehr treffend charakterisiert. Er wurde dabei durch die Arbeit von Conor MURPHY glänzend unterstützt, der für den einfachen Dekor und passenden Kostüme zeichnete. Vertikale oder horizontale Lamellen-Vorhänge (oder beides) dienten als Hintergrund für die verschiedenen Szenen. Die Beleuchtung von Peter VAN PRAET war genau richtig, beängstigend wie in der fast stummen Szene, wenn Tarquinius in Lucretias Gemach eindringt, abschreckend die sechs grellen ins Publikum gerichteten Scheinwerfer der Szene der Vergewaltigung, oder tief ergreifend die Aufbahrung Lucretias auf ihrem Webstuhl.

Die musikalische Leitung hatte ein beliebter Gast in Nantes, Mark SHANAHAN inne. Er wußte das kleine ENSEMBLE DA CAMERA mit Umsicht zu leiten und die sehr komplexe, aber differenzierte Partitur herauszuarbeiten. Der Ritt Tarquinius' vom Lager nach Rom und die Überquerung des Tiber wird einzig von Schlagzeug sehr dezent begleitet: man konnte buchstäblich die Hufe des Pferdes hören, nur durch die große Trommel und einige Schläge aufs Becken; sehr beängstigend.

Die Titelrolle der Lucretia spielte die Französin Delphine GALOU sehr überzeugend und intensiv, doch ist ihre Stimme nicht genügend "Alt". Diese für die dunkle Bronzestimme von Kathleen Ferrier geschriebene Rolle bedarf eine voll tragende Tiefe. Dieses Stimmregister scheint nur mehr in Osteuropa, besonders in Rußland, vertreten zu sein. Dafür beeindruckte der Sänger ihres Gatten, General Collatinus. Der junge Baß Jean TEITGEN steuerte seine hünenhafte Statur, sehr intensives Spiel und einen prächtigen, ausdrucksvollen basso profondo für die schwierige Rolle bei.

Der englische Bariton Benedict NELSON war der geile, zügellose Tarquinius, nicht nur darstellerisch ausgezeichnet, sondern bot auch dank seines warmen Charakter-Baritons und seiner hervorragenden Diktion eine perfekte gesangliche Wiedergabe. Armando NOGUERA war der zweite General Junius und setzte seinen angenehmen Tenor bestens ein, um am Ende zum Aufruhr gegen die etruskische Besatzung zu rufen.

Die beiden Coryphéen Robert MURRAY und Judith VAN WANROIJ, links vorne auf einer kleinen Estrade sitzend, trugen zu Beginn eine Augenbinde, daß man im Halbdunkel glauben konnte, daß sie antike Masken trugen. Während der Tenor Robert Murray durch seine wohllautende Stimme und seine gute Aussprache auffiel, war die Stimme von Judith van Wanroij weniger passend, zumal sie in den Höhen ins Schreien kam. Außerdem war die hier sehr wichtige Diktion auch nicht sehr gut, obwohl die Holländerin als Oratorien-Sängerin sehr geschätzt ist, besonders für Händel. In den Rollen der beiden Dienerinnen, denen die Blumen vom Himmel fallen, war die junge Svetlana LIFAR eine jugendlich-fröhliche Lucia und Katherine MANLEY die besorgte Amme Bianca mit angenehmem Mezzo.

Am intensiven und lautstarken Schlußbeifall bezeugte das Publikum den großen Erfolg für dieses anspruchsvolle Werk. Bravo! wig.