"FIDELIO" - 1. Oktober 2011

Das Problem mit "Fidelio" ist wahrscheinlich, daß man nach fast 200 Jahren zu einer durchaus beliebten Oper einfach keine Idee finden kann, die nicht schon mal jemand gehabt hat. Und deshalb werden die Ideen immer seltsamer…

Die Inszenierung von Hans HOLLMANN gibt mir vor allem das Gefühl, auf zu viele Dinge gleichzeitig hinweisen zu wollen: Die Geschichte wird aus Marzellines Sicht erzählt, von einer gealterten Marzelline (Helga L. SCHOON). Gut, der Gedanke dahinter ist verständlich. Nicht verständlich ist, warum dann Marzelline sämtliche Dialoge übernimmt, während sich die Sänger in Pantomime versuchen, mit Potential zum Fremdschämen.

Sonst ist die Aufführung größtenteils minimalistisch, die Bühne (Hans HOFFER) fast immer leer; die Kostüme (Gera GRAF) passen so ungefähr in die Zeit. Und genau weil der Großteil der Inszenierung so einfach und recht nah am Text ist, stechen die paar Szenen, die es nicht sind, umso deutlicher hervor.

Marzelline und Jaquino legen am Anfang ein rotes Banner zusammen von der Sorte, in deren Mitte man ein Hakenkreuz erwartet. Es findet sich dort allerdings eine Raute. Moment, war nicht die Doppelraute das Zeichen von Napoloni in "Der große Diktator"? Ich habe mir den Rest des Abends darüber den Kopf zerbrochen, aber nichts davon wurde wieder erwähnt.

Die Bühne ist meistens bis auf zwei Plattformen leer. Ausnahmen sind: erstens ein riesiger Kubus, der hin und wieder auf die Bühne heruntergelassen wird oder darüber hängt und als "Zelle" fungiert, und zweitens ein ebenfalls wieder kubisches Gestell, das Florestans Zelle darstellt. Mit dem Eingeständnis Hoffers, daß die Inspiration aus einem Traum kam, muß ich annehmen, dass er vom Geometrieunterricht der 5. Klasse traumatisiert wurde.

Angeblich aus demselben Traum stammt die Idee, daß die Gefangenen alle Brillen tragen, in der man anscheinend nichts anderes sehen kann, als Schriftzüge (und hinter denen sich wieder Kuben befinden…) Das Programmheft war so freundlich, mir zu verraten, daß es dabei um Indoktrinierung gehe. Die Texte werden in den passenden Stellen über die gesamte Bühne projiziert. Ungeschickt dabei: Ausgerechnet der erste und damit einzige Satz, den mit Sicherheit jeder liest, ist ein Koranzitat, daß zum Mord an "Ungläubigen" auffordert. Auch die darauf folgenden Sätze haben alle einen religiösen Kontext und bis die Sätze kommen, von denen sich jeder Zuschauer angesprochen fühlen müßte, liest bestimmt kaum einer mehr mit. Kritisiert werden soll "Gedankenterror durch Indoktrinierung", aber vom Gefühl her bleibt nur eine vage islamfeindliche Aussage.

Mehr oder weniger passend soll Florestans Zelle an Guantanamo Bay erinnern; mich läßt sie mehr an Vierteilung denken: Florestan liegt auf dem Bauch und die Seile, die seine Extremitäten fesseln laufen über die oberen Ecken des Kubus ins Off und werden hin und wieder mal stramm gezogen. Programmheft, Internetpräsenz etc. weisen ständig darauf hin, daß es eigentlich unmöglich ist, in dieser Position zu singen und deshalb werde ich jetzt ein Spielverderber sein und den Trick verraten: Florestan steht in einer Grube und die sichtbaren Beine sind mehr als offensichtlich nicht seine und wahrscheinlich unecht…

Doch apropos Singen: Evgenia GREKOVA als Marzelline (die Marzelline, die tatsächlich singen darf) hatte ich nach dem ersten Duett schon abgeschrieben, da sie und Jaquino offensichtlich einen "Von wem ist weniger zu hören"-Wettbewerb abhielten. Dann verließ Jaquino die Bühne, und ich war sehr überrascht festzustellen, daß der erste Eindruck täuschte. Sicher, kräftig und mit dem passenden Gesichtsausdruck eines verliebten Mädchens bestritt sie den Rest des Abends. Von Jonas GUDMUNDSSONs Jaquino war, wie schon angedeutet, ausgesprochen wenig zu hören. Thomas DE VRIES als Don Fernando sang lauter, aber auch ziemlich unauffällig.

Auch Hye-Soo SONN als Rocco schien einige Probleme mit der Lautstärke zu haben, besonders was die tieferen Töne angeht. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Grenze seines Stimmumfangs erreicht war. Sein Schauspiel schwankte zwischen "unüberzeugend" und "ganz anständig".

Zu den größeren Enttäuschungen des Abends zählte Sinéad MULHERN als Leonore. In allem was sie tut, scheint sie nur zwei Extreme zu kennen: Entweder sie steht an einem Punkt und schwankt, als müsse sie Schiffsbewegungen der Bühne ausgleichen, oder sie rennt umher wie ein aufgescheuchtes Huhn. Entweder sie singt verständlich und wohlklingend, aber viel zu leise, oder man hört tatsächlich etwas von ihrem Gesang, der dann aber gepreßt klingt, mit unverständlichem Text und einem Vibrato passend zu den Bewegungen des Schiffes, auf dem sie sich als Einzige zu befinden scheint. Der eine oder andere Quietscher blieb uns gerade im zweiten Akt auch nicht erspart.

Nach dem ersten Bild war ich ja schon kurz davor zu sagen, das Theater habe ein Akustikproblem, oder das Orchester sei einfach zu laut, da die Sänger so sehr in ihm untergingen. Doch dann betrat Joachim GOLZ als Don Pizarro die Bühne. Nicht nur, daß ihm zum Hollywood-Piraten eigentlich nur ein Hut mit einer großen Feder drin fehlte; er beherrschte daraufhin jede Szene. Im Finale des ersten Aktes war er als Einziger über den Chor deutlich zu hören und "Ha, welch ein Augenblick" reichte für Gänsehaut. Überhaupt sorgt die Kombination seines starken Gesangs und überzeugenden Schauspiels für eine gewisse Spannung, kaum daß er die Bühne betrat.

Thomas PIFFKA ist nach Pizarro der Zweite, der keine Schwierigkeiten mit der Lautstärke des Orchesters hat. Tatsächlich scheint ihm das Wort "piano" sogar gänzlich unbekannt zu sein, aber viel Verwendung hätte er dafür sowieso nicht. Seine Arie singt er ausgesprochen mitreißend, und daß er an diesem Abend gegen Pizarro verliert, liegt vor allem daran, daß ihm die Inszenierung wenig Raum für Schauspiel läßt.

Die größte Beleidigung der Ohren war an diesem Abend der CHOR (Anton TREMMEL). Während "Ha, welch ein Augenblick" habe ich vom Chor kaum etwas gehört, und es wurde nicht besser. Schon der Anfang von "Oh welche Lust" war so langweilig, wie ich nicht gedacht hatte, daß dieses Stück sein könnte, und dann kam der Chor nach dem zweiten Solisten völlig aus dem Takt, und es sah für mich danach aus, als ob der Dirigent schnipsen würde, um die Aufmerksamkeit der Sänger wieder auf sich zu lenken. Danach gab es in jeder Stelle, in der der Chor noch mal auftauchte, zahlreiche unsaubere Einsätze.

Die Chorsolisten machen es nicht besser. Der Erste, Patrick K. HURLEY war auch der Erste, der völlig aus dem Takt geriet. Vom Zweiten, Martin STOSCHKA, habe ich zwischen mangelnder Lautstärke und andauernder Empörung über den Ersten Solisten wenig mitbekommen. Wenn Pizarro diesen Chor aufgrund ihres Gesangs eingesperrt hat, wäre das keine "willkürliche Gewalt" sondern Barmherzigkeit.

Den Gegensatz dazu bildet das ausgesprochen saubere ORCHESTER, dirigiert von Marc PIOLLET. Es tat mir wirklich leid, daß kein großer Umbau nötig war, und wir daher nicht die 3. Leonoren-Ouvertüre zu hören bekamen.

Zwischen seltsamer Inszenierung, katastrophalem Chor, Blendung durch die Pultbeleuchtung des Dirigenten und meinen sich ständig darüber beschwerenden Nachbarn, habe ich einen eher irritierenden Abend erlebt. Dank Piraten-Pizarro war es das Ganze aber trotzdem wert. NG