"Z MRTVÉHO DOMU" - 29. September 2013

(Aus einem Totenhaus)

Um meine Gral-Metapher der letzten gelungen "Totenhaus"-Aufführung weiterzuführen, könnte ich dieses Mal sagen, daß der Straßburger Gral noch einmal schöner aussieht als der aus Berlin, beim genaueren Hingucken, aber ein größerer Teil der Edelsteine aus geschliffenem Glas bestehen…

Um es klarer auszudrücken, Robert CARSENs Inszenierung dürfte die Beste und Eindrucksvollste sein, die ich bisher gesehen habe; nur musikalisch bleibt diese Aufführung hinter der, die ich in Berlin gesehen habe, etwas zurück.

Wie so viele Aufführungen versuchte auch diese, Ort und Zeit des Geschehens möglichst allgemein zu halten, doch scheint mir, daß gerade die Costumière (Miruna BORUZESCU) sich eher an Solschenizyn als an Dostojewski gehalten hat. Das Bühnenbild (Radu BORUZESCU) bestand aus einem einzigen Raum, drei hohe Steinmauern, die meistens die Bühne komplett umschlossen (und selbst wenn nicht, sah man den Ausgang meist nur, wenn das Licht daher schien). Umbauten bestanden bestenfalls aus dem Hereinholen oder Heraustragen von Requisiten und geschahen, außer zwischen den Akten, auf offener Bühne.

Als Adler gab es diesmal sogar einen echten Raubvogel auf der Bühne (ich kenne mich da nicht aus, aber ich glaube, er war zu klein für einen Adler), der am Ende des dritten Akts auch einmal durch den Zuschauerraum in den obersten Rang flog (nach einem Umweg über den darunter liegenden, von dem ich immer noch bezweifle, daß er geplant war), wo eine Frau mit einer Quietschemaus wedelte…

In den Erzählungen der Sträflinge wurden Requisiten und andere Anwesende kurzerhand zu Teilnehmern der Geschichte umfunktioniert. So erstach Luka einen Schuh (auf den seine Zuhörer mittlerweile einen solchen Haß aufgebaut hatten, daß sie danach auf den Schuh eintraten), Skuratov stieß einen Backstein um (der danach ausführlich begutachtet wurde), Šapkin teilte Aljeja in seiner Geschichte die eigene Rolle zu, und Šiškov sah Akulka in seinem Kissen… Und es ist unglaublich wie groß der Effekt solcher Kleinigkeiten auch auf den Zuschauer, zumindest auf mich, war.

Ausnahmsweise sagten mir auch mal die Theaterstücke wirklich zu: Während das erste Theaterstück größtenteils in Slow Motion auf der Vorderbühne aufgeführt wurde, fand die Pantomime hinter einer Leinwand statt, auf die die Schauspieler projiziert wurden. Dies nutzte man zu Späßen über die übergroßen Geschlechtsteile der Liebhaber (so wurde einer von ihnen als Kleiderständer verkleidet, indem die Müllerin seine Mütze auf sein Gemächt hängte), und tatsächlich war es sogar wirklich lustig.

Insgesamt hatte mich das Geschehen auf der Bühne zu diesem Zeitpunkt bereits ausreichend in seinen Bann gezogen, daß ich nach Ende der Pantomime um ein Haar mitgeklatscht hätte.

Wer sich eventuell noch überlegt, die Oper zu sehen, sollte den nächsten Absatz überspringen, denn für den Rest möchte ich den meiner Meinung nach eindrucksvollsten Moment der Inszenierung nacherzählen: Als der betrunkene Sträfling zum wiederholten Mal Skuratovs Geschichte unterbrach und sich sämtliche Zuhörer gegen ihn wandten, um ihn zum Schweigen zu bringen, nutzte ein Anderer dies, um einem Dritten seine Brotration zu klauen. Und das war ein lustiger Moment, das gesamte Publikum kicherte. Spulen wir zum Finale vor: Als die Wärter die Sträflinge nach der Freilassung des Adlers wieder an die Arbeit schickten und diese im Kreis marschierten (siehe Gustave Dorés "Newgate Exercise Yard" bzw. van Goghs "Rundgang der Gefangenen") zog er das Stückchen Brot wieder aus der Tasche und begann mit ausdruckslosem Gesicht daran zu nagen. Und da war es überhaupt nicht mehr lustig. Und man fühlte sich furchtbar, daß man im zweiten Akt darüber lachen konnte…

Doch genug, bevor ich die komplette Inszenierung nacherzähle.

Das ORCHESTER unter Marko LETONJA wußte größtenteils zu begeistern, aber leider blieb der eine oder andere Fehler nicht aus. Dennoch war mein Eindruck größtenteils positiv. Allgemein hätte an der musikalischen Umsetzung noch zu bemängeln, daß den Sängern wohl gesagt wurde, daß es in Ordnung sei hin und wieder eine Zeile zu sprechen oder sogar zu schreien, was mir nicht gerade zusagte.

Der Platzmajor, gespielt von Patrick BOLLEIRE, enttäuschte leider ein wenig. Nachdem er stark anfing, begann er leider, ebenso stark nachzulassen. Im Finale war er über das Orchester teilweise nur schwer zuhören. Er spielte um einiges besser, und seinem ersten Auftritt gelang es tatsächlich, ihn als furchteinflößend darzustellen.

Andreas JÄGGIs Leistung als Skuratov war wechselhaft. Sein Schauspiel wußte durchgängig zu überzeugen, aber hin und wieder (z.B. im ersten Akt, als er anfängt zu singen und zu tanzen) schien er Schwierigkeiten mit den hohen Tönen zu haben. Im zweiten Akt war davon allerdings nichts mehr zu hören.

Unter den kleinen Rollen des Wärters (Sunggoo LEE), des Kochs (Jens KIERTZNER), des betrunkenen Sträflings (Hervé Huyghues DESPOINTES), des Schmieds(Mario BRAZITZOV), Kedril/Stimme (Gijs VAN DER LINDEN) und Don Juan (Jean-Gabriel SAINT-MARTIN) fiel keiner groß auf. Die Rollen der Dirne und des jungen Sträflings waren kurzerhand gestrichen worden.

Auch Adrian THOMPSON als der große Sträfling ist mir nicht weiter in Erinnerung geblieben; sein Gegenspieler, der kleine Sträfling (Enric MARTINEZ-CASTIGNANI) war im Streit der Beiden noch unauffälliger, am Ende des zweiten Akts beherrschte er dann aber die Bühne. Auch zu Cerevin (Philip SHEFFIELD) und Cekunov (Peter LONGAUER) weiß ich leider nicht mehr zu sagen.

Rémy CORAZZA als der alte Sträfling zeichnete sich durch alle durch eine auffällig kräftige Stimme auf. Guy DE MEY als Šapkin lieferte von musikalischer Seite eine schöne Leistung ab, blieb mir aber schauspielerisch kaum im Gedächtnis.

Martin BÁRTA spielte seinen Šiškov (den Popen übernahm er auch noch) als halbverrückt vor Verzweiflung. Eine ausgesprochen vielseitige Stimme ließ seine Erzählung sehr lebendig wirken, wenn er die Rollen seiner Gesprächspartner übernahm.

Pascal CHARBONNEAU als Aljeja gelang eine unglaubliche Charakterisierung der Rolle. Sein Aljeja schien gegenüber Gorjancikov zu schwanken zwischen einem Kind, das einen Beschützer sucht und einem jungen Erwachsenen, der keinen solchen mehr brauchen möchte. Dazu kam, daß Charbonneaus Aussehen einfach in so eine Oper paßt. Wo findet man solche halb verhungert aussehenden Sänger?

Nicolas CAVALLIERs Gorjancikov hinterließ einen noch stärkeren Eindruck. Allein wie er die Bühne betrat und sich zwischen den Sträflingen umsah, voller Unverständnis, als könne er nicht glauben, daß dies mit ihm passiert. Er tat mir bereits leid, ehe er nur den Mund geöffnet hatte. Als er dies dann tat, bekamen wir eine tiefe, sanfte Stimme zu hören. Im Gegensatz zu den meisten Gorjancikovs ist Cavallier laut Programmheft ein Baß, und ich fand diese Entscheidung gelungen.

Es bleibt mir noch Peter STRAKA als Luka Kuzmic. Straka hat bei beiden Malen, die ich ihn bisher in dieser Oper sehen durfte, einen großartigen Eindruck gemacht, und auch dieses Mal hat er mich absolut nicht enttäuscht. Als Luka beherrschte er die Bühne, selbst wenn er eigentlich nicht die metaphorische erste Geige spielte. Seine Stimme ist so kraft- und klangvoll wie gewohnt, und wenn er dann das Liedfragment, das Luka im zweiten Akt singt, so sanft und sehnsüchtig… Auch sein Schauspiel konnte mich unglaublich mitreißen. Ein besonders gelungener Moment verdient es, nacherzählt zu werden: Nachdem Luka im ersten Akt seine Geschichte mit den Worten "Ich dachte, ich würde sterben" beendet, und ihn der alte Sträfling fragt "Und bist du gestorben?" erinnerte Strakas Reaktion an die eines Witzeerzählers, der seinem Publikum den Witz erklären muß…

Jedem, der für diese Oper etwa übrig hat, sei diese Aufführung wärmstens empfohlen. Ich hoffe sehr, daß es einmal eine Videoaufnahme geben wird, da es wirklich schade wäre, wenn diese Inszenierung im Nirgendwo verschwinden würde! NG