"ANDREA CHENIER" - 26. Mai/2. Juni 2007

Ich besuche selten zwei Vorstellungen mit absolut identischer Besetzung so knapp aufeinander folgend. Allerdings hat dies auch einen gewissen Reiz bzw. bringt andere Erkenntnisse.

Die Besetzung der Hauptrollen war sehr hochkarätig: Maddalena di Coigny Violetta URMANA, Andrea Chenier Salvatore LICITRA und Carlo Gérard : Carlos ALVAREZ. Ich war sehr gespannt auf dieses Dreigespann, dem Mix an Rollendebütanten und Wiendebütanten.

Zum ersten Termin war allerdings meine Enttäuschung sehr groß, denn die vokale Hochstimmung blieb aus. Einzig und allein Carlos Alvarez war ein guter Interpret, er hatte stimmlich eine sehr gute Linie und war glaubwürdig in der Interpretation. Aber auch ihm fehlte noch der letzte Schliff.

Weder bei Violetta Urmana noch bei Salvatore Licitra konnte ich eine wirkliche Identifikation mit der Rolle feststellen. Salvatore Licitra hat sich hauptsächlich damit beschäftigt, Töne im Fortebereich zu produzieren, und so mangelte es ganz stark an einer Differenzierung. Es hatte nach beiden Arien des Tenors tosenden Applaus und laute Bravorufe gegeben (da muß wohl eine Fangemeinde anwesend gewesen sein), aber einer Topleistung entsprach das nicht. Auch in der Darstellung des Poeten und Rebellen war er ziemlich eindimensional.

Violetta Urmana, die mich als Mezzo immer sehr begeistert hatte, war als Sopran ebenso wie ihr tenoraler Partner nur auf punktgenaue Ablieferung der Töne ausgerichtet und nicht wirklich auf Interpretation. Rückblickend glaube ich, daß beide einen schlechten Tag hatten.

Die Nebenrollen wie Bersi (Sophie MARILLEY), die Gräfin Coigny (Waltraud WINSAUER), Madelon (Janina BAECHLE), der Abbé (Benedikt KOBEL), der lang gediente Mathieu von Alfred SRAMEK und Roucher von In-Sung SIM waren von bestem Ausdruck und individuell sehr präsent (wenn man jemanden aus dieser Riege hervorheben wollte, dann wäre das der Neuzugang In-Sung Sim, der über ein sehr prachtvolle, kräftige und gut geführte Stimme verfügt).

Das Dirigat von Marco ARMILITATO war stark auf Effekte ausgerichtet und zwang/verleitete die Sänger dazu ebenso zu agieren.

Am zweiten Abend gestaltet sich alles etwas harmonischer. Die wahre Spitzenleistung kam aber auch da einzig und allein von Carlos Alvarez. Man sah und hörte , daß auch ihm nach zwei weiteren Vorstellungen die Rolle noch besser zu gelingen schien. Violetta Urmana brachte endlich mehr Gefühl und Innigkeit in die Rolle ein, und Salvatore Licitra nahm sich zurück, und so klang auch sein Chenier wesentlich besser. Folge war aber, daß das Publikum, welches offenbar nur auf gestemmte Töne wartete, den Applaus nach den Arien sehr spärlich gestaltete, und erst zum Schluß kräftiger applaudiert wurde.

Am zweiten Abend konnte man genau wie an dem ersten, den anderen Sängern zu dem ausgezeichneten Niveau der Leistungen gratulieren. Da ist die Wiener Oper sicher ein "glückliches Haus" weil es auch für kleine und kleinste Partien auf ausgezeichnete Kräfte zurückgreifen kann.

Der CHOR unter der Leitung von Thomas LANG muß auch lobend erwähnt werden. Es ist sicher nicht leicht mit den wenigen Proben, die es bei Wiederaufnahmen nach so langer Zeit gibt, so harmonische gesangliche Leistungen bringen zu können.

Marco Armiliato hingegen blieb seiner lauten Gestaltung mit dem Orchester treu.

Die Inszenierung ist noch eine aus der alten traditionellen Schule von Otto SCHENK; kann aber durchaus bestehen. Ich ziehe das vor, da man nicht abgelenkt ist und der Musik und dem Gesang die ungeteilte Aufmerksamkeit schenken kann.

Durch den zweiten Abend hat sich mein erster, eher negativer Eindruck etwas nivelliert und mir Hoffnung gegeben, daß alle Sänger noch mit den Rollen wachsen können. Material ist vorhanden um in die Topliga aufsteigen zu können.

Da ich in der Vergangenheit Aufführungen gesehen hatte, die wirklich keine Wünsche offen ließen, ist mein großes Handicap, daß ich immer mit sehr hohen Erwartungen in eine Vorstellung gehe, und diese Erwartungshaltung nur selten erfüllt wird. Man müßte manches Mal auf "Alzheimer" schalten können! EH