"ANNA BOLENA" - 5. April 2011

Francesco Maria Piave hat das Libretto dieser Tragedia lirica nach zwei Theaterstücken erarbeitet und eines der bühnenwirksamsten Bühnenwerke für Donizetti geschaffen. "Anna Bolena" wurde am 26. 12. 1830 im Teatro Carcano in Mailand uraufgeführt (mit Giuditta Pasta als Anna Bolena und der achtzehnjährigen Elisa Orlandi als Jane Seymour, die mit 23 als Adalgisa in Bellinis "Norma" auf der Bühne plötzlich verstarb). :Anna Bolena" ist die erste der vier so genannten "Tudor-Opern" Donizettis und leitete einen neuen Gesangsstil und eine eminent politische Behandlung historischer Themen auf italienischen Opernbühnen ein. Das Duett zwischen den beiden weiblichen Hauptrollen "Sul suo capo aggravi un Dio" im 2. Akt gehört zu den absoluten Höhepunkten des Opernrepertoires.

Nach Jahrzehnten des Vergessens, wurde "Anna Bolena" zu Ostern 1957 von Tullio Serafin für Maria Callas an der Scala ausgegraben in einer mythischen Luxus-Inszenierung von Lucchino Visconti (Ausstattung Nicolas Benois, Giulietta Simionato als Jane Seymour, Nicola Rossi-Lemeni als Enrico, Gianni Raimondi als Lord Percy). In der folgenden Saison wurde die Produktion wieder aufgenommen, aber unter Gavazzeni und mit Cesare Siepi als König. Ich gehöre zu den wenigen Glücklichen, die die beiden unvergeßlichen Vorstellungen gesehen haben.

Staatsopern-Direktor Dominique Meyer hatte bereits in Paris am Théâtre des Champs Élysées begonnen, die Tudor-Opern Donizettis zu spielen, aber nur konzertant. Es war ein Wagnis diese emblematische Oper auf die Bühne zu bringen. Denn diese Oper ist nur mit zwei erstklassigen Sängerinnen aufführbar, die auch hervorragende Schauspielerinnen sind. Das ist übrigens auch das große Problem dieser Oper: die beiden Frauen "erdrücken" die anderen Rollen. Denn sowohl die Rolle des Königs Henry VIII, als auch die des Percy sind wahrlich keine Nebenrollen, d. h. man muß eine absolute Star-Besetzung auf die Bühne stellen und dazu ein entsprechendes Regie- und Ausstattungsteam zur Hand haben. Das ist Direktor Meyer völlig gelungen. Die Aufführung war einfach großartig und denkwürdig.

Das begann mit der intelligenten Inszenierung von Eric Génovèse, der die permanente Angst vor dem König aller Beteiligten ständig zeigte. Das drückte sich auch in der Personenführung aus, denn - außer in den intimen Szenen - sind alle vor der Allmacht des Königs gebannt, was eine großteils statische Bühne bot. Unterstützt wurde diese ständige Furcht durch das fast kahle Bühnenbild von Jacques Gabel, das an die düsteren Schlösser Schottlands gemahnte. Mit Ausnahme der Kleider der beiden Frauen - die in dem genannten Zusammenstoß fast gleich gekleidet waren - und des Königs, waren die Kostüme (Claire STERNBERG und Luisa SPINATELLI) ebenso düster und einfach. Ein wenig Farbe kam am Schluß der Oper auf die Bühne, wenn Anna ihre Wahnsinnsarie in eine riesige blutrote Schleppe gehüllt singt, bevor sie zur Hinrichtung schreitet. Ein kleines Mädchen wohnt dieser Exekution bei: Annas Tochter, die zukünftige Königin Elisabeth I. Ein kluger Wink mit dem Zaunpfahl der Geschichte - und der späteren Opern Donizettis. Beleuchtet wurde die Produktion sehr passend von Bertrand Couderc. Johannes Haider zeichnete für die - kleine - Choreographie.

Evelino Pidò, der bereits in Paris und Lyon zwei der Tudor-Opern, "Maria Stuarda" und "Roberto Devereux", geleitet hatte, war der ideale Dirigent des Abends. Großer Spezialist der späten Belcanto-Opern, ziselierte er mit höchster Genauigkeit die gar nicht einfache - und praktisch unbekannte - Partitur. Die WIENER PHILHARMONIKER folgten ihm willig und mit Enthusiasmus.

Anna NETREBKO als Anna Bolena war ein großer Wurf. Die russische Sängerin hat nun den Sprung zum Soprano dramatico di agilità gemacht, die großen Tragödinnen stehen ihr nun offen und Rollen wie Norma, Alkeste, Medea, Marguerite de Valois usw. sind Netrebko sicher. Die Stimme ist erheblich stärker, dramatischer und ungewöhnlich ausdrucksvoll geworden, die - gepaart mit ihrer stupenden Technik - ihren Star-Status in Zukunft garantiert.

Allerdings ist mit ihrer Konkurrentin, Giovanna Seymour, in der Person von Elina GARANÇA zu rechnen, die ebenfalls in dieses Fach tendiert. Die Pracht der Stimme hat sich in den Höhen erheblich erweitert, und die Stimmen der beiden Damen sind bisweilen zum Verwechseln ähnlich. Daß die beiden ausgesprochen attraktive Frauen sind, ist wahrlich kein Handikap. Wenn die beiden Rivalinnen sich im 2. Akt konfrontieren und wie Löwinnen um einander schleichen, hielt das ganze Haus den Atem an. Denkwürdig!

Eine sehr erfreuliche Überraschung war Elisabeth KULMAN in der Hosenrolle des verliebten Pagen Smeton, die einen perfekten Mezzosopran mit diskreten, aber bestimmten Spiel vereinte. Lord Riccardo Percy, den einstigen Verehrer Annas spielte der junge Francesco MELI hervorragend. Was ihn nicht hinderte drei brillante, äußerst schwierige Arien mit Perfektion und Überzeugung zu singen, was ihm immer Szenenapplaus einbrachte. Ildebrando d`ARCANGELO wandte seinen Prachtbaß und seine imposante Statur bestens für den König Enrico VIII. an und sang den rücksichtslosen, geilen Potentaten mit Bravour. Annas Bruder, Lord Rochefort, der ebenso aus dem Weg geräumt wird, war Dan Paul DUMITRESCU, der seiner Schwester die Treue bis zum Ende mit schöner Stimme bewies. Einzig Sir Hervey, der Herold und Handlanger des Königs, war mit Peter JELOSITS etwas stimmschwach und enttäuschte.

Ein denkwürdiger Abend, ein Triumph auf der ganzen Linie, der mit zwanzigminütigem Schlußapplaus endete. wig.