"ANDREA CHENIER" - 2. Oktober 2007

Zürich hat einen neuen "Chenier". Ich habe nicht wirklich nachvollziehen können, ob es in der Regie von Grischa ASAGAROFF ein Konzept gab. Betrachtet man die Personenregie, so ist das Stück eigentlich kreuzbrav vom Blatt inszeniert worden. Die roten Leuchtkreise an den Hälsen der Aristokraten, als diese am Ende des ersten Aktes ihrem Untergang entgegen gehen, wirkten durchaus passend. Die Begegnung der Kinder Maddalena und Gerard im Hintergrund des dritten Aktes fiel ob der Intensität der beiden Sänger vorne kaum auf. Daß man im vierten Akt la Legray tatsächlich das Gefängnis verlassen läßt, war eine gute Idee, eine weniger gute war Chenier und Maddalena quasi per Lift zur Hinrichtung von der Bühne zu befördern; der Effekt war gleich Null.

Das wahre Problem der Produktion stellt jedoch die Ausstattung von Reinhard VON DER THANNEN dar. Das Einheitsbühnenbild mit seiner Kuppel nebst Rundgang, das zum vierten Akt nach unten versenkt wird, ist dabei noch praktikabel. Aber die Kostüme schwanken, speziell was den Chor angeht, zwischen unkleidsam und häßlich. Wieso müssen alle Choristen ab Akt 2 in Trikolorenkostümen herumlaufen, die zudem nicht einmal dem Stil der Zeit entsprechen? Wieso haben außer den Protagonisten alle Figuren weißgeschminkte Gesichter? Wieso müssen die Perücken, besonders bei den Herren, so strähnig sein, daß man den Wunsch bekommt, Haarkuren auf die Bühne zu werfen?

Immerhin konnte die Lichtgestaltung von Martin GEBHARDT sich sehen lassen. Nicht sehen lassen konnte sich hingegen die Choreographie für die Pastorale von Stefano GIANNETTI, über deren Sinn ich mir auch Stunden nach der Vorstellung nicht klar wurde. Weder wurde hier die alberne Schäferphantasie ironisiert, noch sonst etwas damit ausgedrückt.

Anfang September war bei seinem Cavaradossi in Hamburg festzustellen, daß Salvatore LICITRA sich vor allem auf die "Hits" warf, und den Rest so nebenbei zu singen schien. Nun hat der Chenier an Arien gleich vier. Weder in diesen noch in den sonstigen Szenen vermochte Licitra jedoch zu überzeugen. Die Stimme klang unausgeglichen. Da ist ein schönes, baritonales Fundament über dem die Stimme schmaler und weniger qualitätsvoll wird. In der Höhe finden sich dann sichere, aber mit zuviel Kraft und Druck herausgestoßene Spitzentöne. Das innere Glühen für ein romantisches Ideal blieb der Tenor gleich ganz schuldig.

Micaela CAROSI, als Maddalena, die im Libretto ja als "la bionda" beschrieben wird, war mit einer knallroten Perücke geschlagen worden, warum auch immer. Zudem wurde sie durch die Regie teilweise sehr eingeschränkt, die ganz offenbar einer entsprechenden Idee geschuldete überdivenhaften Attitüde bei "La mamma morta" wirkte beispielsweise aufgesetzt. Sie sang jedoch großartig mit einer breiten, warmtimbrierten Stimme, die sich ohne Schwierigkeiten in die Höhen aufschwang, ohne dabei an Qualität zu verlieren. Daß sie durchaus darstellerisch aus sich herausgehen kann, war in der Konfrontation mit Gerard im dritten Akt sehr wohl zu bemerken.

Wenn es an diesem Abend einen Sänger gab, der unangefochten über Regie und Ausstattung triumphierte, war dies Lucio GALLO als Gerard. Zu Beginn noch etwas verhalten und in der unteren Lage etwas angekratzt klingen, hatte sich dies jedoch im zweiten Akt gegeben. Ab diesem Moment lief der Bariton zu großer Form auf, sein mit unglaublicher Präzision und gleichzeitig fast greifbarer Emotion gesungenes "Nemico della patria" und die nachfolgende Szene mit Maddalena waren sicherlich die Höhepunkte des Abends. Auch darstellerisch waren die ambivalenten Gefühle, die Zerrissenheit zwischen Liebe, Begehren und Politik, jederzeit sichtbar.

Judith SCHMID war eine darstellerisch überzeugende Bersi, die jedoch im zweiten Akt einige grelle Töne produzierte. Cornelia KALLISCH hatte wenig Möglichkeiten, sich als Madelon schauspielerisch zu profilieren, da die Regie sie in einen Handwagen verfrachtet hatte. Diese erzwungene Unbeweglichkeit machte sie jedoch stimmlich wieder wett und vermochte zu ergreifen. Margaret CHALKER war stimmlich als Contessa di Coigny ohne Makel, blieb jedoch als Figur nicht in Erinnerung.

Gabriel BERMÚDEZ (Roucher) war mit nicht allzu großer, aber gut fokussierter Stimme ein darstellerisch sehr präsenter Freund des Titelhelden. Der Incroyable von Martin ZYSSET bot in Gesang und Spiel gleichermaßen so überzeugend den Polizeispion dar, daß man sich schon selbst beobachtet fühlte. Warum der Mathieu Valeriy MURGA von einem sidekick begleitet wurde, erschloß sich mir nicht. Ebensowenig wie sein Outfit, was mich spontan an den "singenden Rebellen" aus der Politsatire "Water" erinnerte (übrigens auch nach zwanzig Jahren noch ein sehenswerter Film). Singen tat Murga auf jeden Fall prachtvoll.

In den kleineren Rollen war das Niveau höchst unterschiedlich. Während Kresimir STRAZANAC (Fléville) und Deniz YILMAZ (Abbate) wenig erfreuliches boten, war Schmidt mit Giuseppe SCORSIN sowohl als Typ als auch von der Stimme her goldrichtig besetzt. Morgan MOODY als Fouquier-Tinville stellte sogar in Auftreten und Gesang eine wahre Luxusbesetzung dar. Murat AÇIKADA (Dumas) und Michael ADAIR (Haushofmeister) blieben dagegen unauffällig.

Nello SANTI am Pult des fehlerfrei und animiert spielenden ORCHESTERS DER OPER ZÜRICH dirigierte sängerfreundlich und mit interessanten Akzenten. Gelegentlich setzte er jedoch etwas zu sehr auf die Effekte und wurde plakativ. Etwas mehr Subtilität wäre an diesen Stellen schön gewesen, dies ist jedoch nur als kleine Einschränkung der ansonsten guten Leistung gedacht. Der CHOR unter der Leitung von Jürg HÄMMERLI war ohne jeden Tadel. MK