"DER FERNE KLANG" - 6. Juni 2010

Zu Beginn sieht man einen älteren müden Mann mit grauen Haaren und Brille in einer fast leeren Etagenwohnung. Er brüht sich einen Kaffee und lehnt sich ermattet gegen die Wand. Sein Leben, die Geschichte der Suche nach dem fenen Klang zieht an ihm vorbei, die Drehbühne dreht sich, wir sehen ein Zimmer in den fünfziger Jahren (Bühne und Kostüme Mathis NEIDHARDT).

Die junge Grete, ein Teenager mit Petticoat und Haarband, Fritz, ihr Freund, ein ordentlicher junger Mann mit Wollpullover. Aber Fritz will weg aus der kleinbürgerlichen Enge, er sucht den fernen Klang. Daß er dabei Grete trotz ihres Bittens nicht mitnimmt, läßt das Drama seinen Lauf nehmen. Denn kaum ist Fritz aus dem Haus kommt Gretes Vater, der alte Graumann, mit seinen Saufkumpanen heim, er hat Grete an den Wirt beim Kegeln verspielt. Wir werden Zeuge, wie die Männer in Gretes Unterwäsche wühlen, und der Wirt sie beinahe vergewaltigt. Die Mutter steht stumm daneben.

Grete will Fritz hinterher, findet ihn aber nicht mehr. Bei Franz Schreker findet sie sich an einem See wieder, in dem sie sich ertränken will. Regisseur Jens-Daniel HERZOG verzichtet auch auf diesen letzen Hauch von Romantik und läßt die Szene in einem verdreckten Hinterhof spielen, der See wird zur Pfütze, eine Glasscherbe zum Selbstmordinstrument. Ein altes Weib, augenscheinlich aus dem Milieu, findet Grete und nimmt sie mit, man ahnt nichts Gutes.

Herzog versetzt die nächste Szene in die Siebziger, Grete ist der Star der venezianschen Lebewelt. Fulminant schon hier die Wandlungsfähigkeit von Juliane BANSE. Mit roter Langhaarmähne und in weißer Abendrobe ist sie kaum wiederzuerkennen. Aber bei aller strahlenden Schönheit hat sie etwas Elegisches im Vergleich zum feiernden Partyvolk um sie herum. Im Sängerwettstreit werben die Männer um sie, gewinnen tut der wie zufällig vorbeikommende Fritz. Als der allerdings erfährt, wie Grete die letzten zwanzig Jahre gelebt hat, stößt er sie von sich.

Wieder sind bei Herzog zwanzig Jahre vergangen, Fritz' Opus "Die Harfe" erlebt seine Uraufführung, und Grete ist dabei. Auch diesmal ist sie kaum wiederzuerkennen. Obwohl mittlerweile auf dem Straßenstrich tätig, hat sie sich für den Abend zurecht gemacht. Wollrock, Twinset, graue Kurzhaarfrisur, Brille und die Haltung einer pensionierten Bibliothekarin. Daß der Freier der Nacht zuvor sie wiedererkennt, grenzt an ein Wunder. Grete hat ob des Werkes einen Schwächeanfall gehabt und wird in die Theaterkantine gebracht. Hier treffen wir alle alten Bekannten wieder: den alten Graumann, den Wirt, Damen aus Venedig, alle bei einer kurzen Zigarette oder einem schnellen Bier in der Auftrittspause. Das ganze Leben Gretes in einem Raum. Nur Fritz ist nicht da, zu krank um der Premiere beizuwohnen.

Ihn sehen wir in der Etagenwohnung vom Anfang, sein Leben, sein Stück sind an ihm vorbeigezogen, nur Grete fehlt. Das Werk ist durchgefallen, Fritz soll den Schluß neu schreiben, und als Grete auftaucht, und die beiden sich zaghaft annähern, erkennt er, daß er nur mit Grete dazu in der Lage sein wird. Er bricht in ihren Armen zusammen, tot.

Juliane Banse und Roberto SACCÀ in den Hauptpartien sind ein Glückgriff. Stimmlich die anspruchsvollen Rollen voll ausgestaltend, stehen sie auch darstellerisch dem in nichts nach. Aber auch die vielen kleineren Partien sind überzeugend besetzt. So Oliver WIDMER als der Graf, Tomasz SLAWINSKI als der Wirt, Stefania KALUZA als altes Weib oder Morgan MOODY als alter Graumann/Rudolf.

Ingo METZMACHER am Pult hat wieder einmal gezeigt, daß er einer der ganz großen Schreker-Dirigenten ist. Die Mischung aus Zartheit und wuchtigem Überschwang gelang eindrucksvoll, kein Ertränken des Klangs, keine kalte Analyse.

Große Begeisterung beim Publikum dieser Nachmittagsvorstellung. KS