Diese Oper war mir bisher absolut unbekannt. Auch der Titel verschiedener Bearbeitungen "Otto mesi in due ore" sagte mir nichts. Bei der im Booklet (was in diesem Fall beinahe ein richtiges Buch ist, die CDs stecken im Buch) in englisch und französisch ausführlich dargestellten Werkgeschichte auch kein Wunder. Donizetti hat das Stück ungefähr sieben Mal bearbeitet und von der ersten (1827) bis zur letzten (1845) Fassung komplett umgeschrieben. Die Handlung dreht sich um die Familie Potoski, bestehend aus dem Grafen (Tenor), seiner Frau Fedora und seiner Tochter Elisabetta (beide Sopran) sowie der Amme Maria (Mezzo); der Graf ist nach Sibirien verbannt worden. Elisabetta hat sich in den Kopf gesetzt, für ihren Vater beim Zar zu bitten. Sie bricht gegen den Willen aller anderen zusammen mit Marias Sohn Michele (Bariton) nach Moskau auf. Irgendwie werden die beiden getrennt. Elisabetta trifft an einem Fluß den Fährmann Iwano (Baß), der um seine Tochter trauert und an der Verbannung des Grafen beteiligt war. Er will Elisabetta helfen. Gleichzeitig erscheinen einige Tataren, die, nachdem sie anfänglich ganz anderes mit Elisabetta vorhatten, von ihr so beeindruckt sind, daß sie sie nach Moskau eskortieren wollen. Vorher gibt es jedoch noch ein Unglück, bei welchem Elisabetta beinahe ertrinkt. Der Graf ist auf der Suche nach seiner Tochter nach Moskau geeilt, wo er prompt von Soldaten des Großmarschalls (Baß) verhaftet wird, der bei der Verbannung damals die Fäden gezogen hat. Dank eines Briefes von Iwano, den Michele übergeben hat, läßt sich der Zar (Tenor) überzeugen, daß der Graf unschuldig ist. Happy end mit Sopran-Rondo...

Hier aufgezeichnet (Actes Sud AT 34108) wurde erstmals überhaupt eine Version der Oper, wobei man sich wohl für eine Mischfassung entschieden hat. Die Musik ist sehr donizetti, teilweise entdeckt man auch Stücke aus anderen Opern (das Finale erster Akt "Liebestrank" ist hier ein ernster Moment, was anhand der Kenntnis der späteren Verwendung in dieser komischen Oper nicht sehr überzeugen kann, die Cavatina von Michele klingt wie eine Mischung aus Dulcamara und Don Pasquale). Größtenteils herrscht allerdings eher der Eindruck einer Opera buffa, was zur obigen Handlung merkwürdig wirkt.

Verdienstvoll ist die Aufnahme alle Mal, wobei auch noch sehr gut musiziert wird. Das ORCHESTRE NATIONAL DE MONTPELLIER LANGUEDOC-ROUSSILLON und der CHOEUR DE LA RADIO LETTONE unter ENRIQUE DIEMECKE klingen sehr italienisch und sind engagiert dabei.

Als Elisabetta kann Brigitte HAHN für sich einnehme, obgleich sie mich bislang auf der Bühne nicht überzeugen konnte. Hier jedoch klingt die Stimme nicht zu klein oder verkehrt eingesetzt, sondern ausgeruht, warm und sehr engagiert. Technisch ist sie allen Schwierigkeiten gewachsen. Zudem wirkt die Stimme angemessen jugendlich für eine Achtzehnjährige, die Elisabetta gemäß Libretto ist. Der Graf Potoski ist bei Luca CANONICI ist ausgezeichneten Händen. Nicht nur, daß der Sänger von exemplarischer Wortdeutlichkeit ist, mit individuell timbrierten Tenor hat er auch keinerlei Probleme mit der Cavatina und der langen Arie im letzten Akt. Eine sehr überzeugende Leistung; einziger Mangel: er klingt einfach zu jugendlich für eine erwachsene Tochter.

Alfonso ANTONIOZZI (Michele) singt tadellos, ist aber sehr buffonesk, was auch an der Komposition (s.o.) liegen kann, Valery IVANOV ist ein zu Herzen gehender Iwano, dessen Stimme leider am Ende seiner großen Arie verflacht. Jérôme VARNIER (Alterkan, Anführer der Tataren) und Nikola MIJAILOVIC (Großmarschall) machen ihre Sache solide, aber nicht überragend, während Christine NEITHARDT-BABAUX (Fedora) und Alessandra PALOMBA (Maria) etwas dünnstimmig erscheinen. Yann BEURON komplettiert angenehm als Zar.

Die Aufnahme ist somit mehr als lediglich das Schließen einer Repertoirelücke. MK