"DER RING DES NIBELUNGEN" - 20., 22., 27. und 29. Mai 2011

Noch einmal, zum - hoffentlich nicht - letzten Mal gab es am Saisonende den in vier Jahren gewachsenen "Ring" komplett an zwei Wochenenden, ein Unterfangen, das auch schon mal Besucher aus Süddeutschland extra anreisen läßt, hat diese Produktion sich doch einen Ruf erworben, der weit über das lokale Umfeld hinausreicht, weil sie jegliches "Stadttheaterniveau" weit hinter sich läßt und auch im Vergleich mit der großen Konkurrenz bestehen kann; so habe ich z.B. unter den vielen bekannten Gesichtern im Publikum aus Hamburg noch niemanden getroffen, der die Lübecker Aufführungen nicht der zeitgleich entstandenen Hamburger Variante vorgezogen hätte - und zwar szenisch UND musikalisch!

Sicher, man hat keine "großen" Namen zur Verfügung und manche der Lübecker Sänger würden die Partien am Hamburger Haus aus Gründen des Stimmvolumens (nicht wegen mangelnden Könnens) nicht singen können; und beim Orchester ist man grundsätzlich zum Kompromiß gezwungen, weil infolge der Möglichkeiten die Bearbeitung von Gotthold Ephraim Lessing gespielt werden muß (der von 1903-1975 lebende Namensvetter des großen Dichters und Denkers war Dirigent an diversen kleinen Theatern, u. a. auch in Lübeck). Aber WIE man die spielt ist aller Ehren wert, auch wenn es das ein oder andere Balanceproblem gibt, weil Lübeck eben nicht über den großen Streicherapparat verfügt und im Blech ab und an etwas daneben geht (wobei man sich in bester Gesellschaft mit erheblich höher bezahlten Kollegen anderweitig befindet). Aber selbst dort bleibt jederzeit die Spannung erhalten. Roman BROGLI-SACHER ist im Großen und Ganzen ein Freund zügiger Tempi und auf den dramatischen Akzent hin aufgebauter Zuspitzung, aber besonders im 1. Akt der "Walküre" kostete er auch die Lyrik auf, ließ die Streicher blühen und das Orchester demonstrieren, wie schön so manches Solo sein kann, wenn es mit der nötigen Ruhe ausphrasiert wird.

Gesungen wurde durchweg gut, wobei es schon erstaunlich war, wie viele Partien die Lübecker aus dem eigenen Ensemble heraus besetzen können ohne sich dabei vor den natürlich vorhandenen Gästen (kein Haus schafft heutzutage einen "Ring" allein) verstecken zu müssen.

Einen "Star" - wenn man so will - gibt es trotzdem, nämlich Rebecca TEEM, die seit ihrem zwar höhensicheren, aber doch etwas kleinstimmigen Debüt als "Walküren"-Brünnhilde 2008 eine enorme Entwicklung gemacht hat hin zu einem in allen Lagen durchschlagskräftigen, ohne Schärfen auskommenden und offenbar völlig ermüdungsresistenten Organ, das auch nach vier Stunden "Götterdämmerung" noch mühelos das Orchester übertönt ohne dabei in reine Kraftmeierei zu verfallen; jederzeit wird beherrscht gesungen und zudem glänzend phrasiert. Da sie obendrein auch noch höchst intensiv spielt, bleibt da wirklich kein Wunsch offen.

Kräftig entwickelt hat sich auch Stefan HEIDEMANN, der vom Kavaliersbariton, der den "Walküren"-Wotan schaffte, weil er singen konnte zum echten Heldenbariton geworden ist. Leider ging dieser Gewinn an Volumen und dunkel-metallischem Klang im "Rheingold" auf Kosten sowohl der dynamischen Differenzierung als auch der Diktion; da war selbst in der 1. Reihe mitunter wenig Text zu verstehen. In der "Walküre" wirkte er dann wie ausgewechselt und gestaltete glänzend ohne da, wo es nottat, an Kraft einzubüßen. Und als Wanderer bewegte er sich auf dieser Linie weiter, die Erda-Szene im 3. Akt war - zusammen mit der mit schier endlosem Atem versehenen Ulrike SCHNEIDER - einer der ganz großen Höhepunkte.

Der Siegfried war wie immer geteilt worden. Jürgen MÜLLER klang diesmal bis hin zu den Schmiedeliedern - bei aller Höhensicherheit - ein bißchen steif und eng. Dafür gelang ihm ein wunderbar lyrisches Waldweben. Und im 3. Akt packte er staunenswerte Reserven aus, die ihm zum gleichwertigen Duettpartner für den Schluß machten; da war nichts von sparen müssen oder gar gerade eben durchkommen zu hören wie so oft am Ende dieser Mammut-Partie.

Richard DECKER hat als "alter" Siegfried die weichere Stimme, kein schwerer Helde sondern lyrisch grundiert, aber mit dem nötigen Peng für die entscheidenden Stellen. Allein beim Schwur schwächelte er ein wenig, glich das aber mit einer höchst geschickt gesungenen Waldvogel-Erzählung und einem schön phrasierten Tod mehr als aus.

Als Wälsungen-Paar waren wieder Marion AMMANN und Andrew SRITHERAN zu hören; sie mit leuchtendem Klang und mirakulöser Textbehandlung wie eh und je, und er mit technisch gereiftem, ganz auf Linie geführten und schön dunkel timbrierten lyrisch jugendlichen Heldentenor. Eine Klasse für sich ist jedes Mal Antonio YANG als machtvoll auftrumpfender, die Partie aber jederzeit singender Alberich, der genau die richtige Mitte zwischen stimmlicher Kultur und nötiger Expression hielt. Als Bruder Mime wiederholte Patrick BUSERT im "Rheingold" seine intelligente Variante des Geschundenen. Im "Siegfried" hatte es in der Partie die einzige große Umbesetzung gegeben. Der Premieren-Mime Arnold Bezuyen war durch Stuart PATTERSON ersetzt worden. Der hatte die richtige optische Altersdifferenz zum "Rheingold" und stand Bezuyen als quirliger Schauspieler nicht nach. Stimmlich konnte er mit dem Bayreuther Loge, der in Lübeck ein echter Gegenpart zu Siegfried gewesen war, freilich trotz solider Technik und guter Phrasierung nicht mithalten, weil das Organ nicht nur buffonesker sondern auch deutlich kleiner war. Warum man sich hier als Zweitbesetzung nicht ebenfalls für Busert (ebenfalls ein exzellenter Darsteller und als Ensemblemitglied obendrein die billigere Variante) entschieden hatte, ist mir nicht recht klar geworden.

Ein bißchen problematisch ist inzwischen der Loge von John PICKERING, weil er besonders im Passaggio fehlende Spannkraft durch Krafteinsatz auszugleichen versucht und die Töne damit nachschiebt, anstatt sich geschickt über den Text zu retten, was in dieser Partie ja legitim wäre (und wie es der späte Gerhard Stolze in Vollendung konnte).

In die Baßpartien teilten sich - abgesehen vom "Siegfried"-Fafner von Daniel LEWIS WILLIAMS - Andreas HALLER und Gary JANKOWSKI. Im "Rheingold" war das ein schöner Gegensatz zwischen Hallers weicher Stimmführung als Fasolt und dem doch deutlich kantigeren Organ Jankowskis. Daß Haller auch anders kann, demonstrierte er als höchst bedrohlicher Hunding. Und Jankowski zeigte als Hagen, daß der Drahtzieher besonders gefährlich ist, wenn er differenziert und mit einer gewissen Eleganz daher kommt. Beiden gemeinsam war die total unterschiedliche Optik ihrer Rollen. Da hatte - und nicht nur da - die Maske ganze Arbeit geleistet!

Was man aus häufig etwas stiefmütterlich behandelten Rollen machen kann, wenn man sie mit Vertretern des ersten Fachs besetzt zeigten Gerard QUINN als Donner und Gunther (auch wenn die Wagner-Tessitura seinem Italienerbariton sicher nicht entgegenkommt), Ausrine STUNDYTE als von der Regie ohnehin aufgewertete Gutrune und vor allem Veronika WALDNER als herrlich zickige Fricka und warmstimmige Waltraute.

Die Inszenierung von Anthony PILAVACHI ist auch beim zum Teil dritten Sehen von enorm detailversessenen Einfallsreichtum, modern ohne modernistisch zu sein, mit oft überraschenden, aber fast immer logischen und zu Ende geführten Lösungen. Nur in der "Götterdämmerung" erscheint es mir manchmal, als habe er den ein oder anderen Faden entweder vom Ende her gedacht und dann unbedingt einen Anfang finden müssen oder aber nicht konsequent weitergeführt, was aber eher ein Problem schierer Ideenüberfülle zu sein scheint - allemal besser als das Gegenteil also...

Inzwischen ist dieser "Ring" auch auf DVD erhältlich, erschienen beim Klassik Center Kassel, wobei man es leider - was einige technische Dinge angeht - bei Aufnahme und Aufbereitung anscheinend mit wenig opernerfahrenen Leuten zu tun hatte. Über die simple Aufmachung in einer Pappbox kann man hinwegsehen (wenn man so, will ist das auch ein Unterscheidungsmerkmal zur großen kommerziellen Konkurrenz) und Bildqualität sowie Kameraführung sind völlig in Ordnung; inwieweit man die vielen sehr dichten Großaufnahmen der Sänger mag, ist Geschmackssache, den ein oder anderen szenischen Zusammenhang hätte man sicher besser verdeutlichen können, aber das ist kein wirkliches Problem.

Ärgerlicher ist schon das weitgehend sinnfreie Tracking, bei dem ein automatisches Programm sich etwa alle fünfzehn Minuten eine Generalpause gesucht zu haben scheint; das macht jeder Amateur bei der Home-DVD besser. Und vollends unverständlich ist mir die Mikrophonaufhängung für die Sänger (jedenfalls in der Stereo-Tonspur, die für den überwiegenden Teil der Käufer die wichtige sein dürfte). Denn während das Orchester jederzeit präsent aus den Lautsprechern kommt klingen die Solisten oft hallig, wie weiter hinten im Raum verloren, ein Eindruck, der im Haus selbst so nicht gegeben war, wo die Stimmen deutlich direkter über die Rampe kamen. Das ist schade, weil damit nicht nur mancher Sänger, sondern die ganze Produktion stimmlich unter Wert an den Mann gebracht wird. HK