"IL PRIGIONIERO"/"SUOR ANGELICA" - 11. April 2015

Erlösung oder nicht? Dieser Frage hat sich das Theater Lübeck mit der aktuellen Opernpremiere(n) verschrieben und dazu Luigi Dallapiccolas "Il prigioniero" und Giacomo Puccinis "Suor Angelica" als Doppelabend auf die Bühne gebracht.

Unter Leitung von Andreas WOLF zeigte sich das PHILHARMONISCHE ORCHESTER hervorragend disponiert. Der Erste Kapellmeister ist ein wahrer Glücksgriff für das Haus.Ob Dallapiccola, ob Puccini - beiden Opern wurden angemessen und engagiert gespielt; beiden Musikstilen die gleiche Professionalität und Spielfreude entgegengebracht.

Man hörte Orchesterwucht, wo es angemessen war, doch nie geriet der Klang zu laut. Die musikalische Feinheit der ruhigen Momente ging nie verloren. Es war einer der ganz großen Abende des Lübecker Orchesters.

Für die Titelrolle in "Il prigioniero" braucht es einen Bariton, der sowohl die stimmlich als auch in der Darstellung überzeugt. Kein Zweifel, daß Gerard QUINN das kann, und doch sah und hörte man jenes Quentchen mehr, das die Professionalität diesem Sänger stets gebietet.

Hoffnung, Verzweiflung, Unglauben und Freiheitswunsch - all das findet seine perfekte Entsprechung in Stimme wie Spiel. Ist er entdeckt? Hat der Gefangene sein Ziel erreicht? Die Oper wird zum Kammerspiel, und das Rollenporträt kann man sich gelungener nicht vorstellen.

Richard ROBERTS war der Partie des Kerkermeisters gewachsen. Hier konnte er auch in der Darstellung überzeugen. Als Großinquisitor glückte ihm das nicht.

Grandios waren Hjongseok LEE und Seokhoon MOON als Priester. Sowohl mit Snack und Getränk bewaffnet über die Bühne wandernd, als auch stimmlich nutzten sie ihre kurzen Auftritte zur Profilierung.

Verbindend von der Sängerseite wirkte Carla FILIPCIC HOLM, die sowohl die Mutter in "Il prigioniero", als auch die Schwester Angelica sang. Man könnte dieser Sängerin stundenlang zuhören und wäre wohl keine einzige Sekunde gelangweilt. Hier hörte man kein stumpfes sich rein auf die Stimmkraft Verlassen, sondern erhielt zwei musikalisch ausgesprochen komplexe Rollenporträts, die in jedem Augenblick vollkommen glaubwürdig waren.

Die Themen Mutterliebe und Verzweiflung sind zwar zentral für beide Opern, doch die Sängerin vermochte es, beiden Charakteren jeweils eine ganz eigene Persönlichkeit zu geben. Im ersten Teil war sie die nicht mehr junge Frau, die den bevorstehenden Tod ihres Sohnes ahnt und ihn nicht zu verhindern weiß. Im zweiten Teil sang und spielte sie glaubhaft die wesentlich jüngere Figur, die am Tod ihres Kindes zerbricht.

Für die Fürstin wünscht man sich allgemein eine Darstellerin, die Grandezza und gern auch ein bißchen Boshaftigkeit atmet. Romina BOSCOLO ließ sowohl das Eine, als auch das Andere vermissen. Zum Teil war dies sicher der Inszenierung geschuldet, die aus der Grande Dame eine kühle Geschäftsfrau machte. Stimmlich konnte die Sängerin primär in den tieferen Lagen überzeugen.

Die Präsenz, die man bei Angelicas Tante vermißte, brachte Wioletta HEBROWSKA als Äbtissin und Schwester Mahnerin auf die Bühne. Auch hier überwog zwar die Geschäftsmäßigkeit der Figur, doch der Sängerin gelang es besser, ihren Figuren bzw. der Figur, zu der ihre beiden Rollen verschmolzen, die passende Charakterisierung zu geben.

In den weiteren Rollen hörte man Inga SCHÄFER (Lehrmeisterin der Novizen),Andrea STADEL (Schwester Genoveva), Andrea ALEXANDER (Schwester Osmina), Anna HERBST(Schwester Dolcina, Novizin), Annette HÖRLE (Die Schwester Pflegerin), Frauke BECKER und Simone TSCHÖKE(Bettelschwestern, Laienschwestern) sowie Britta HADELER (Schwester Lucilla).

CHOR und EXTRACHOR des Theater Lübeck (Leitung: Joseph FEIGL) waren beiden Musikstilen hervorragend gewachsen und boten - in "Suor Angelica" gemeinsam mit dem Kinder- und Jugendchor VOCALINO (Gudrun SCHRÖDER) - wieder den gewohnt klangstarken und harmonischen Chorgesang.

Die starke musikalische Interpretation und die großartigen Sängerleistungen allein machten beide Teile des Abends zu einem wirklichen Erlebnis.

Leider konnte die Inszenierung nur bedingt mithalten. Flucht und Erlösung sollen die zentralen Themen sein; so kann man es im Programmheft lesen.

Gelang es Pascale-Sabine CHEVROTON im ersten Teil des Abends noch, die bedrückende Enge und die aufkeimende, schlußendlich aber vergebliche Hoffnung gut zu transportieren, so ging ihr Konzept für das Drama im zweiten Teil nicht auf.

Statt in einem Kloster lebt Angelica in einer nicht näher bezeichneten "Gemeinschaft von Frauen". Weshalb dort so strenge Regeln herrschen, oder wo genau sich diese Gemeinschaft befindet (Containerschiff? Hafenterminal?), wird nicht erklärt (praktischerweise hat man in der Handlungsbeschreibung des Programmhefts alle und aus den Übertiteln fast alle Bezüge auf den eigentlichen Spielort von Puccinis Einakter gestrichen). Und was hat es mit den Puppen auf sich, die die Frauen fertigen?

Leider entzieht die zeitlich-räumliche Verlegung der Oper die eigentliche Bestimmung. Es ist, als wäre dem Stück die szenische Seele genommen. Da es der Regisseurin auch nicht gelungen ist, die Beziehungen der einzelnen Figuren mit in die neue Umgebung zu transportieren, verpuffte der psychologische Effekt im wirren Durcheinander der nun rahmenlosen Handlung. Weshalb ist Angelica durch die uneheliche Geburt ihres Kindes überhaupt stigmatisiert? Da die beschriebene Gesellschaft nicht erkennbar ist, bleibt diese zentrale Frage wie so viele andere offen.

Die Schlußszene geriet hier zum kitschigen Intermezzo der Glückseligkeit. Angelica und ihr Sohn wandeln glücklich vereint zwischen sich ebenfalls wiederfindenden anderen Menschen umher. Man kann über die Erlösung Angelicas geteilter Meinung sein, aber das war schlicht szenischer Nonsens.

Der erste Teil ist, wie bereits erwähnt, besser geglückt. Allein der Schlußeffekt (Kerkermeister gleicht/ist Großinquisitor) verpuffte hoffnungslos in der unkoordiniert wirkenden Massenszene.

Zu verdanken ist die berührende Wirkung dieser Dallapiccola-Produktion u.a. auch dem Bühnenbild von Jürgen KIRNER.

Die Hölle ist ein 20'-Container, und solche fanden sich dann denn auch ausreichend auf der Bühne. Übereinander gestapelt, ergaben sie den Bühnenhintergrund, ließen Raum für den vermeintlichen Fluchtweg und boten mit den beiden je nach Lichteinfall transparenten Elementen effektvolle Möglichkeiten für die Chorauftritte.

Auch die Zelle des Gefangenen ist ein Container. Dieser wurde auf seine Stirnseite gestellt und kann heraufgefahren und wieder absenkt werden, gerade so wie es dem Kerkermeister beliebt. Dies bringt interessante räumliche Effekte, war allerdings der Sicht auf das komplette Geschehen aus dem Rang teilweise leider etwas abträglich.

Tanja LIEBERMANNs Kostüme zeigten sich in beiden Teilen erschreckend lieblos. Alles wirkte wie eben mal aus dem Fundus unter dem Motto "was paßt, wird genommen" zusammengestellt. Die Gemeinschaft der Frauen wird durch gleiche, schwarze Schuhe mit weißen Sohlen manifestiert. Nun ja.

Die Lichtregie von Benedikt KREUTZMANN kam besonders im ersten Teil des Abends zum Tragen. Hier erlebte man ausgesprochen gut gelungene Effekte und variantenreiche Möglichkeiten der Raumgestaltung.

Es ist erfreulich, daß sich das Theater Lübeck auch in der aktuellen Spielzeit wieder den eher selten gespielten Werken widmet. Dem Publikum bieten sich so neue Live-Hörerfahrungen und andere musikalische Sichtweisen. Hoffentlich bleibt das auch in Zukunft so und wird vom Publikum weiter entsprechend goutiert. AHS