"EDGAR" - 7. Dezember 2002

Die dreiaktige Oper "Edgar", Puccinis zweite Oper von 1889, ist keine Nummernoper mehr, sondern verwendet schon die offene Form von "Tosca" oder "Butterfly". Wer zu den Opernfreunden gehört, für den die Glaubhaftigkeit von "Forza del Destino", "Fanciulla del West", "Trovatore", "Frau ohne Schatten" oder "Lohengrin" zu wünschen übrig läßt, der kennt nicht "Edgar". Das Libretto hat auch hier wie in den "Villi" Sig. Fontana auf dem Gewissen, nur hat er hier nicht komprimiert, sondern sich ausgetobt; an Unsinn könnte "Edgar" leicht das "Guinness Book of Records" machen!

Es ist eigentlich eine ähnliche Geschichte wie "Le Villi", diesmal in Flandern im 14. Jahrhunderts: der recht charakterschwache Tenor Edgar ist mit einer eher weißen Gans verlobt (die noch dazu Fidelia heißt!); er wird hier von einem geilen Luder (passend Tigrana benannt) verführt, nachdem sie seinen baritonalen Freund Frank stehen gelassen hat. Die beiden Männer haben natürlich nichts klügeres zu tun als sich um das blonde Gift zu keilen, die sie dazu noch aufhetzt. Edgar verzieht sich darauf mit Tigrana - er hat vorsichtshalber noch das väterliche Haus abgebrannt - und gibt sich mit ihr dem Lasterleben hin (sie singt ständig: "A ti darà di voluttà, la mia beltà."). Natürlich bereut er bald das alles in einer großen Tenor-Arie im 2. Akt, im Stil von "Qu'ella mi creda" (Fanciulla). Das folgende Duett mit Tigrana ist von Lehar'scher Sentimentalität. Doch da erscheint sein ehemaliger Nebenbuhler Frank mit einem Regiment Soldaten, was Edgar bewegt, sich von Tigrana los zu reißen und sich den Soldaten anzuschließen.

Der 3. Akt übertrifft den bis daher erlebten Unsinn noch um einiges. Es beginnt mit einem pathetischen Trauerzug des gefallenen Ritters Edgar mit einem sehr dramatischen Chor "Requiescat in pace! Ora pro eo!". Frank und der als Mönch verkleidete (!!) Edgar folgen dem Katafalk. Fidelia singt eine sehr schöne, ergreifende Arie auf ihren Edgar, passend vom Chor kommentiert. Der Mönch beginnt nun in mehreren Strophen die Ehre Edgars zu bezweifeln, denn der hat ja vorher ein schauerliches Lotterleben geführt. Nach einigen dieser Inkantationen beginnt das Volk auch an dessen Biederkeit zu zweifeln, und in einer großen Steigerung schreit der Chor "Ai corvi il suo cadavere!" Fidelia schreitet ein und beschreibt ihre Kindheit mit Edgar in einer sehr mit Harfe begleiteten, etwas schmalzigen Arie, die jedoch an "Vissi d'Arte" gemahnt. Nach Abgang Fidelias und des Volks, erscheint Tigrana, um vor dem Katafalk Edgars zu beten. Die beiden Kumpane, Edgar und Frank, wollen sich aber an ihr rächen, und nach einem höchst dramatischen Terzett betet sie kniend vor dem aufgebahrten Ritter. Jetzt kommt der Knüller! Mönch Edgar offeriert Tigrana ein Perlencollier, das er mit ihren Tränen vergleicht, um seiner Rache zu dienen. Als plötzlich die Soldaten und Fidelia erscheinen - natürlich unter lautem Trompetenschall - stellt er an Tigrana die Frage, ob Edgar sein Land für Gold habe verraten wollen. Als Tigrana das bejaht, stürzt sich das Volk auf den Katafalk und kann nur feststellen, daß eine leere Rüstung darauf liegt. Edgar reißt seine Kutte auf und stellt sich der Menge. In der allgemeinen Verwirrung will er Tigrana umbringen, die aber schnell unter den Soldaten verschwindet. Edgar umarmt Fidelia, und man wartet auf das Happy End. Man soll sich nicht zu früh freuen! Tigrana schleicht sich katzenartig an Fidelia heran und ersticht sie! "Orror! E' morta!" ist alles, was der Chor zu stammeln im Stande ist. Edgar stürzt über Fidelias Leiche zusammen und mit atemberaubendem Krach endet diese höchst fidele Oper. Kein Auge bleibt trocken!

Puccini war sich der Lächerlichkeit und Absurdität des Librettos bewußt, denn er versuchte mehrmals Sig. Fontana zu überreden, dieses zu ändern, allerdings ohne jeglichen Erfolg. Er schrieb später über "Edgar": "E un organismo deficiente". Es ist wohl diese üble Erfahrung, die in späteren Jahren die manische Pedanterie Puccinis seinen Librettisten gegenüber erklärt, die er ja schrecklich schikaniert hat.

Yoel LEVI dirigierte auswendig (!) das ORCHESTRE NATIONAL DE FRANCE (das 1. Radioorchester, in Höchstform) hinreißend und - in den Grenzen des Möglichen - differenziert. Die sehr geforderten Bläser und Schlagzeuger sind besonders zu loben, ohne aber dem großen Streicherapparat Abbruch zu tun. Der CHŒUR DE RADIO FRANCE unter Norbert BALATSCH hatte sehr viel zu tun und sang herrlich von pianissimo bis fünffachem forte. Toni RAMON hatte bestens den Kinderchor ( MAÎTRISE DE RADIO FRANCE) einstudiert.

Die ganze Aufführung war durch die Teilnahme von Julia VARADY als Fidelia dominiert und erhielt dadurch natürlich eine ungewöhnlich festliche Atmosphäre. Daß die große, leider nur mehr selten zu hörende Sängerin diese einigermaßen larmoyante Rolle übernommen hatte, liegt an der prachtvollen Musik, die Puccini für Fidelia geschrieben hat; ein Vorgeschmack für die vielen musikalisch sehr dankbaren späteren Frauenrollen. Ihre wunderbare Stimme schwebte über den großen Chören, ebenso wie ihr gehauchtes pianissimo "Edgar! Il moi solo amor!" das Publikum berauschte.

Der amerikanische Tenor Carl TANNER sang den Edgar mit ausdrucksvollem, kräftigem spinto Tenor, der sich für Puccini Rollen wie Edgar, Johnson, Cavaradossi besonders eignet. Er sang die - im Grunde dämliche - Rolle des Edgar durchwegs mit Kraft und Schwung. Dalibor JENIS gab eine meisterhafte Darstellung des Nebenbuhlers Frank. Sein prächtiger, voll strömender Bariton war für diese Rolle ideal. Er leistete sich den Luxus, ein strahlendes hohes "G" am Ende des 1. Akts zu schmettern.

Mary Ann McCORMICK sang das blonde Gift Tigrana. Die schwierige Rolle war für die blutjunge Amerikanerin mit verführerischem Mezzo eine gute Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen. Man wird sicher von ihr noch oft hören. Einen Namen, den man sich merken soll! Carlo CIGNI sang den Vater Gualtiero mit vollem Baß rollendeckend. Der Triumph für Varady färbte auf Sänger, Dirigent, Chor und Orchester ab! Das Publikum tobte! wig.