„Der goldene Hahn“ - 22. Dezember 2002

Es geht heuer auf den Pariser Opernszenen im allgemeinen sehr slawisch zu. Nach der laufenden Reihe „Bohemia Magica“ hat das Théâtre du Châtelet nun eine große „Russische Saison“ geplant, die im Herbst bereits mit zwei Ballettabenden des Theaters Mariinski in Sankt Petersburg („Nußknacker“ und „Bayadère“) eingeleitet wurde. Nicht weniger als sechs russische Opern, davon zwei von Rimski-Korsakow und die Rarität „Der Dämon“ von Anton Rubinstein, umrahmt von zahlreichen Konzerten, sowie Janaceks „Jenufa“ und Szymanowskys „König Roger“ konzertant, sind auf dem Spielplan.

Dies ist nicht die erste „russische Saison“, denn vor achtzehn Jahren hatte der damalige Direktor des Châtelet, Jean-Albert Cartier, bereits eine mit drei russischen Opern gebracht, von denen „Der goldene Hahn“ von Rimski-Korsakow den größten Erfolg hatte, dank der farbenprächtigen und üppigen japanischen Inszenierung. Klugerweise wurde diese sensationelle, nach San Francisco „verborgte“ Produktion repatriiert und neu einstudiert.

Historisch sind die kulturellen Beziehungen zwischen Frankreich und Rußland mehr als zweihundert Jahre alt. Auch während des kalten Kriegs gab es mehrmals Gastspiele des Bolschoi oder des Kirov. Anfang des 20. Jahrhunderts kam Diaghilev nach Paris und gründete die „Ballets Russes“, die Pavlova und Nijinski zu Weltstars machte. Besonders nach dem 1. Weltkrieg bildete sich eine Kolonie geflüchteter Adeliger in Paris, Nizza und Biarritz. Da die Herrschaften nie gearbeitet und keinen Beruf hatten, wurden sie in Paris … Taxichauffeure und sangen jeden Sonntag in der russischen Kirche der Rue Daru. Bis in die sechziger Jahre waren die Pariser Taxis fest in russischer Hand. Als EMI in den fünfziger Jahren erstmalig komplette Opernaufnahmen machte, wurden mehrere russische Opern (meist unter Issaye Dobrowen) in der Salle Pleyel (der Bühnenausgang ist in der Rue Daru) aufgenommen mit dem Chor der russischen Kirche nebenan. An den Aufnahmetagen konnte man in Paris kein Taxi finden…

Was kennt man schon von Rimski-Korsakow (1844-1908)? Nicht viel. Er hat nicht nur den „Hummelflug“, „Scheherezade“ und das „Capriccio espagnol“ geschrieben und nicht nur die Opern anderer fertiggestellt und instrumentiert. Er war ein sehr fruchtbarer Komponist von symphonischen Werken, Kammermusik, Klavierstücken und vor allem fast eines Dutzend Opern. Autodidakt, wurde er – nach einer beginnenden Karriere als Kapitän, wobei er eine Weltumsegelung machte - nichts desto weniger mit 27 Jahren Professor für Komposition und Instrumentation und wurde in dieser Funktion weltberühmt (zu seinen Schülern zählten u.a. Arenski, Glazunow, Liadov, Prokofiev, Respighi und Strawinsky). Der Besuch des ersten „Rings“ 1890 in Petersburg war für ihn eine wichtige Entdeckung, ebenso wie „Salome“ und „Pelléas“, die er 1905 in Paris sah. Er ist ein unumstrittener Meister der Orchestrierung, und seine Klangsprache ist nach wenigen Takten erkennbar. In seinen letzten zehn Jahren seines Lebens schrieb Rimski-Korsakow nicht weniger als sechs Opern, seine wichtigsten und reifsten. Die dreiaktige Oper „Der goldene Hahn“ ist sein letztes Werk, dessen Uraufführung er jedoch nicht erlebte.

Das Werk – wie mehrere frühere – beruht auf einem dramatischen Gedicht Puschkins. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, die historisch-heroische Volksepen vertonten („Boris Godunow“, „Chowantschina“, „Fürst Igor“ etc.), bevorzugte Rimski-Korsakow Fabeln und Märchen als Libretti. Der bewußt märchenhafte, einigermaßen subversive Text beschreibt die Abenteuer des vertrottelten Zaren Dodon, der nur ans Schlafen denkt, dessen Söhne Gvidon und Afron keine Leuchten sind, der von der Königin von Schemaka lächerlich gemacht wird und den der Astrologe praktisch überrumpelt, bevor er diesen umbringt und schließlich vom goldenen Hahn selbst niedergepickt wird. Man muß bisweilen an ein anderes subversives Stück mit einem bekloppten König denken, Büchners „Leonce und Lena“.

Das Thema, das Rimski-Korsakows treuer Librettist Vladimir Bielski so gut er konnte „annehmbar“ machen wollte, kam dem repressiven Regime von Zar Nikolaus II. kurz nach der katastrophalen Niederlage gegen Japan und der Revolte des blutigen Sonntags (9. Januar 1905) kaum gelegen. Während der folgenden Unruhen am Konservatorium hatte Rimski zu allem Überfluß noch ein revolutionäres Studentenlied („Dubinuchka“) orchestriert! Resultat: die Zensur schnitt und schnitt und verzögerte. Erst am 24. September 1909 wurde die Oper in einer Privataufführung gebracht und zwei Monate später am Bolschoi. Die Erstaufführung im „Westen“ fand am 21. Mai 1914 in Paris statt, von Diaghilev als Ballett inszeniert, mit den Sängern im Orchester und in den Kulissen. Seither bleiben der „Goldene Hahn“ und so gut wie alle Opern Rimskis in unseren Breiten praktisch ungehört. Schade! Einzig an der Berliner Komischen Oper spielt man seinen „Zar Saltan“. Rimskis „Zarenbraut“ (1898) wird im Mai in Bordeaux herausgebracht und übersiedelt Ende Juni ins Châtelet.

„Der goldene Hahn“ besticht durch die Kürze der Szenen und die sehr ökonomische Verwendung des Orchesters (nur 105 Minuten Musik), was an vielen Stellen eine kammermusikalische Atmosphäre ergibt. Die drei Hauptthemen ertönen bereits im kurzen Vorspiel: die Trompeten des Hahnenrufes (absteigend, wenn es ruhig ist, aufsteigend, wenn Gefahr droht), die orientalisierende Sonnenhymne der Königin Schemaka und das Schrittmotiv (Glockenspiel/Flöte mit Harfe/pizzicato Celli) des Astrologen. Diese drei Motive werden systematisch eingewoben und werden durch Märsche, Chöre und deklamatorische Szenen ergänzt. Der Zar, seine Söhne und die Nebenrollen sind nicht wirklich leitmotivisch charakterisiert, sondern eher rhythmisch. Rimski-Korsakow hat auch eifrigst frühere Themen aus „Scheherezade“ oder die Arie des indischen Prinzen aus „Sadko“ wieder verwendet.

Die Produktion des Châtelet wurde 1984 von Ennosuke III ICHIKAWA inszeniert, einem der großen Meister des Kabuki-Theaters. Isao TAKASHIMA besorgte die Wiederaufnahme. Er umgab sich mit einem Team, in dem Setsu ASAKURA für das einfache Bühnenbild einer aufsteigenden Stiege mit einigen stilisierten Versatzstücken und Tomio MOHRI für die spektakulären Kostüme zeichneten. Die gesamte Ausstattung wurde in Tokio in den Werkstätten der Firma OMOKADA hergestellt und heuer restauriert. Nicht zu vergessen das Team von zwölf Schminkdamen, das Susanne PISTEUR leitete. Jean KALMAN besorgte die passende Beleuchtung. Die Choreographie des spektakulären Festballetts (u.a. mit einem wirklichen Riesen - Guillaume JEGOU, sicher 2,20 Meter) besorgte Kanshino FUJIMA.

Selten sind auf einer Opernbühne Kostüme von derartiger Farbenpracht und Luxus zu sehen gewesen, mit ausgesuchten Schminkeffekten. Es ist schwer den Parademantel aus Brokat, Samt und Seide mit Goldbestickung des Zaren Dodon zu beschreiben – er wiegt immerhin 15 kg. Königin Schemaka erscheint aus einem spitzen Zelt und trägt einen kleinen Kristallleuchter als Kopfschmuck. Der Hahn ist eine mit goldenen Federn von Kopf zu Fuß gekleidete Sängerin, die von einem Türmchen die Schreie losläßt. Das Fahnenschwingen und - werfen am Ende des 1. Akts muß man gesehen haben, einfach atemberaubend! In diesem brillanten Dekor führte Enosuke III Ichikawa die Sänger und den Chor in statischen, bisweilen starren Posen. Die kriegerischen Posituren der beiden Zarewitsche, jeder mit einem unsinnigeren Kriegsplan, sind höchst symbolisch. Der dazu tretende Astrologe gibt mit Dodon, den beiden Söhnen und Polkan eine geometrisch strukturierte Linie. Das alles ist in hohem Maße durchdacht, ohne je ermüdend oder langweilig zu werden, da es das Groteske der Situation unterstreicht. Ebenso wie die Märsche oder der angstvolle Chor des 3. Akts, der in eine quadratische Aussparung der Stiegen gepfercht ist und so die Ankunft des Zaren erwartet (Rimski machte sich wenig Illusionen über die politische Reife des russischen Volkes!).

Sängerisch ist die Oper nicht zu anspruchsvoll, mit Ausnahme der Königin Schemaka, eine brillante Rolle für einen Koloratursopran. Die attraktive Olga TRIFONOVA erfüllte die Rolle ausgezeichnet, die immerhin aufs hohe „E“ geht. In der Höhe wird die Stimme bisweilen etwas schrill (bei der Rundfunkübertragung am 28. Dezember sang sie viel freier), doch ihr Legato ist prachtvoll. Albert SCHAGIDULLIN sang den Zaren Dodon sehr passend, er besitzt die richtige Stimme für die meist deklamierende Rolle.

Sein beiden streitenden Söhne Gvidon und Afron sind eher kleinere Rollen, da sie sich vor dem 2. Akt bereits gegenseitig umbringen: Ilya LEVINSKY und Andrei BREUS sangen und spielten die aufdringlichen Zarewitsche bestens. Ilya BANNIK besitzt einen schwarzen russischen Bass, den er passend für den General Polkan einsetzte, ebenso wie Elena MANISTINA als sorgende Amme Dodons, die mit ihrem typisch russischen Mezzo dem Volk gegenüber sehr herablassend ist.

Ein besonderes Lob gebührt dem Engländer Barry BANKS, der den Astrologen mit Naturstimme und Falsett (sehr hoher Tenor, bis zum hohen „E“!!) in einem prächtig gestickten schwarzen Kaftan absolut hinreißend gestaltete. Die junge Yuri Maria SAENZ in der Titelrolle sang mit klarer Glockenstimme die Hahnenschreie, flatterte mit Schwung von ihrem Turm und erstach den König mit Bravour.

Der CHOR DES MARIINSKI THEATERS SANKT PETERSBURG war von Andrei PETRENKO bestens einstudiert worden und folgte willig der ungewöhnlichen Regie. Kent NAGANO leitete das ORCHESTRE DE PARIS mit größter Umsicht und Sinn für das Detail der zwischen Träumerei und Schlachtenlärm oszillierenden Partitur. Ein Triumph! wig.