"DER SILBERSEE"- 04. Dezember 2003

Die „Opéra éclaté“ und der sehr rührige Direktor Olivier Desbordes hatten vor vier Jahren diese letzte deutschsprachige Kammeroper Weills aus dem Jahre 1932 in Massy zur französischen Erstaufführung gebracht. Es war interessant, dieses Werk wieder zu erleben. Die vier Abende dieser Wiederaufnahme fand im Rahmen eines Mini-Festivals zeitgenössischer Opern statt (mit der „Dreigroschenoper“, Brittens „Turn of the screw“ und der UA von „Le condamné à Mort“ von Philippe Capdenat). Das recht neue Théâtre Sylvia Montfort im 15. Pariser Arrondissement mit etwa 500 Plätzen ist ein futuristischer Rundbau in einem Park am südlichen Stadtrand.

Georg Kaiser (1878-1945) war einer der erfolgreichsten Schriftsteller der deutschen Sprache seiner Zeit. Er ist der Autor von über 60 Theaterstücke, u.a. das pazifistische Drama „Die Bürger von Calais“ (1913) und ein weiterer Operntext für Weill „Der Zar läßt sich photographieren“. Er wurde überall in Deutschland, aber auch sehr viel im Ausland, bis New York und Tokio, gespielt. Die Uraufführung von „Silbersee“ fand gleichzeitig in Magdeburg, Erfurt und Leipzig am 18. 2. 1933 (!!), drei Wochen nach Hitlers Machtübernahme, statt. Ärger geht’s kaum! Es gab riesigen Krach und Schlägereien mit der SA. Weill flüchtete einen Monat später nach Frankreich und bei einem Konzert (mit Ausschnitten aus „Silbersee“) in der Pariser Salle Pleyel gab es ebenso Krawalle. Ein Kritiker schrieb „Wir haben genügend schlechte Komponisten, daß wir die deutschen Juden nicht brauchen.“ Ambiance! Weill ging dann nach Amerika, wo er große Erfolge in Hollywood erzielte. Georg Kaiser verließ Deutschland erst 1938 und ging ins Exil in die Schweiz, wo er am 4. Juni 1945 völlig verarmt und praktisch unbekannt in Ascona starb.

Als „Volksstück“ angekündigt, ist „Der Silbersee“ eher eine moralische Fabel und ein Lehrstück, aber ohne den aufgehobenen Zeigefinger Brechts. Die ungewöhnlich poetische und dramatische Sprache Kaisers (hier in einer hervorragenden Übersetzung von Roland Krebs und Claude Ber) und die abwechselnd reißerische, abwechselnd subtile Musik Weills ergeben ein äußerst packendes Werk. Die zwischen Klassenkampf und Märchen schwankende Handlung ist heute aktueller denn je, von Arbeitslosigkeit, Not und protzigem Reichtum geprägt.

Der obdachlose Penner Severin und seine vier hungernden Kumpane hausen in Mooshütten am Silbersee. Zu Beginn der Oper begraben sie eine Strohpuppe, La Faim, den Hunger; doch der Hunger verläßt sie nicht. Sie überfallen einen Lebensmittelladen und räumen alle Viktualien aus. Auf dem Rückweg zu den Mooshütten treffen sie auf zwei Gendarme, den redseeligen Dicken und den schweigsamen Olim. Im Laufe der Perlustrierung schießt Olim Severin an. Während Olim den Polizeibericht tippt, wird Olim gleich darauf in der Lotterie Milliardär. Er beschließt sein Leben und sein Vermögen der Rehabilitierung Severins zu widmen. Das geht nicht ohne Schwierigkeiten, denn Severin sucht seinen Angreifer. Wenn Olim entlarvt wird, kommt es zur dramatischen Konfrontation und Trennung, die schließlich in einer - etwas rührseligen - Aussöhnung endet. Beide pilgern in einer Art Auferstehung zu den Mooshütten und während er Chor „Ihr seid nicht entbunden von der Pflicht zu leben!“ singt, entschwinden beide über den gefrorenen Silbersee.

Weill schleust öfters die Musik seiner früheren Werke („Mahagonny“, „Dreigroschenoper“) ein, wie die Ballade „Cäsars Tod“ oder der Weizenbrot-Song. Die schmissige Ouvertüre gibt bereits einen Vorgeschmack. Musikalisch sind am interessantesten die sehr gut und dicht durchkomponierte Zwischenspiele. Melodrama, Gassenhauer, Sprechgesang, ein Klaviersolo von Salonmusik, dichte Ensembles und kleine Chöre werden sehr effizient verwendet. Es ist kein Wunder, daß Weill wenige Jahre später in Hollywood Furore machte.

Michel FAU als Olim und Eric PEREZ als Severin (der bereits vor vier Jahren die Rolle gestaltet hatte) stellten sehr glaubhaft die beiden Hauptfiguren dar. Die Bühnenpräsenz der beiden Sänger und ihre gesanglichen Qualitäten trugen die Aufführung. In den kleineren Rollen ist vor allem die stimmlich und darstellerisch ausgezeichnete Francine BERGÉ als Frau von Luber, die Olim um sein Vermögen prellt, zu nennen, sowie Natalia CADET als Fenimore, ihre Nichte vom Land. Ausgezeichnet waren auch die beiden Verkäuferinnen, denen Severin und seine Kumpane den Laden plündern, Christine TOCCI und Flore BOIXEL. Sehr stimmfest waren die vier Kumpane mit Damien BIGOURDAN, Eric DEMARTEAU, Richard LAHADY und Rul ANGELO besetzt. Eric VIGNAU als Baron Laur und Jean-Pierre DESCHAIX als dicker Gendarm und Arzt rundeten das sehr geschlossene Ensemble ab.

Der junge Dirigent Jean-François VERDIER fiel durch präzise Zeichengebung auf und leitete das ORCHESTRE OPÉRA ECLATÉ (16 Instrumentalisten plus Klavier) sehr zügig.

Der gelungene praktikable Einheitsdekor von Patrice GOURON (auch Kostüme und Beleuchtung) vor einer Ziegelwand mit passenden Türen und Fenstern bestand aus einem riesigen 10 Meter langen Aufbau, der als Festtafel, Brücke, Polizeikommissariat, Kaufladen und Krankenzimmer diente. Der Direktor der Opéra Eclaté Olivier DESBORDES führte darin und im Zuschauerraum seine Sängerschar mit fester Hand durch das traumhafte Geschehen des ungewöhnlichen Werks.

Das ausverkaufte Haus dankte den Künstlern mit großem Beifall. wig.