“FALSTAFF” - 10. Februar 2003

„Tutto è burla!“ Unter dieser Devise hatte der Pariser Operndirektor Hugues Gall zu Sylvester 1999 Verdis heiteres und abgeklärtes Alterswerk gebracht, um die Absurdität des ausgehenden Jahrhunderts zu feiern (er konnte nicht wissen, was uns im neuen Jahrhundert ins Haus stehen wird!).

Daß er die Produktion Dominique PITOISET anvertraut hatte, ließ Böses befürchten nach der katastrophalen „Don Giovanni“-Inszenierung im Frühjahr vorher. Die Übertragung in die viktorianische Zeit läßt sich durchaus vertreten und war eine angenehme Überraschung, zumal das Bühnenbild von Alexandre BELIAEV sehr gelungen ist. Die ganze Handlung spielt auf der Straße. Eine lange Ziegelmauer quer über die gesamte Bühne besteht aus vier kontinuierlichen Teilen, die je nach Bedarf herein geschoben werden. Ein zweistöckiges Wohnhaus mit der Aufschrift „Royal Windsor Park – Herne’s Great Oak – Daily visits“ ist zu Beginn links zu sehen, mit drei Bögen im Erdgeschoß. In einem steht ein viktorianisches „Auto“, ein offener Landauer, in dem Pistola (blendend mit antiker Autobrille und Lederhelm!) schläft und an dem ein Kumpan herumwerkelt. Über der Tür der Glasveranda rechts im Erdgeschoß steht „Machine Shop & Garage“. In den Szenen mit den Damen wird die ganze Wand teilweise nach links verschoben und ein weiterer Teil des Gebäudes mit der Aufschrift „Quickley’s Steam Laundry“ erscheint, sowie eine Außenstiege und daneben ein Schacht – der Themse-Kanal, in dem Falstaff später landet.

Es stellt sich heraus, daß auch Alice und Meg in der Wäscherei tätig sind, da alle ständig Leintücher falten. Im letzten Bild wird die Kulisse ganz nach rechts verschoben, und nun erscheint links die berühmte Herne’sche Eiche, die an der Wand des Wohnhauses wächst, die Festgäste und Quälgeister kommen im Auto von rechts. Am Schluß werden Plakate „Vote for Ford!“ auf die Wände gekleistert und Ford zum Bürgermeister gewählt. Die hübschen Kostüme von Elena RIVKINA sind ausgesprochen ansprechend und zeitgerecht Falstaff kommt im Gehrock, roter Weste und Zylinder zu Alice, die Damen haben – wie sich es gehört – lange Röcke, Fenton als Dandy kommt auf einem prähistorischen Fahrrad. Philippe ALBARIC sorgte für die passende subtile Beleuchtung. Hier ist eine perfekte Inszenierung, die durch gut durchdachte Personenführung auch in der Wiederaufnahme völlig stimmt. Michel JANKELEWITCH hatte diese mit Präzision betreut.

Hausherr James CONLON dirigierte die Aufführung sehr ausgeglichen, mit sichtlichem Vergnügen für die prachtvolle Partitur. Die subtilen Stellen waren leicht hingepinselt und die großen lärmenden Chorszenen hatte er fest in der Hand. An manchen Stellen mußte man an Karajan denken. Das ORCHESTER war hörbar bei der Sache und folgte seinem Chef mit Begeisterung. Peter BURIAN hatte den CHOR der Pariser Oper bestens einstudiert, dessen Mitglieder sich sichtlich amüsierten.

Den Falstaff von Jean-Philippe LAFONT zu preisen, wäre eine Untertreibung. Er ist die Personifizierung von Sir John! Stimmlich absolut magistral, zwischen dem hingeblätterten „Quando erro paggio dell‘ duca di Norfolk“, bis zu seinen „Mondo reo“, wenn er triefend aus dem Kanal steigt, oder wenn er die beiden Briefchen der Damen liebevoll anlächelt, hat er heute kaum einen ernstlichen Konkurrenten. Zwischen seinem großartigen Barak vor zwei Monaten in der Bastille und seinem Wotan im Mai in Lüttich, zeigt Lafont wieder, welch ungewöhnlicher Künstler er ist. Außerdem versteht man praktisch jedes Wort! Neben einem solchen „szenischen Monster“ hatten es die anderen Sänger natürlich schwer.

Susan NEVES als Alice war eine Fehlbesetzung. Da sie nun als Norma, Abigail oder Odabella weltweit zu hören ist, wurde ihre (sehr schöne) Stimme aber viel zu schwer (übrigens nicht nur die Stimme!) für die sehr lyrische Alice. Louise CALLINAN spielte Meg als alte Jungfer und war etwas trocken im Ausdruck, kam aber mit der undankbaren Rolle stimmlich zurecht. Auch Kathleen KUHLMANN als Mrs. Quickly fehlte es etwas an Temperament und Komik, wenngleich sie stimmlich völlig zufriedenstellend war. Stefano ANTONUCCI (Hausdebüt in der Bastille) als Ford machte mit schöner warmer Stimme aus dieser eher dümmlichen Rolle eine sehr gute Charakterstudie.

Charles CASTRONOVO (auch Hausdebüt) als Fenton sang mit angenehmer tenorino Stimme „Bocca baciata non perde ventura“ hingebungsvoll und sich in das Herz der reizenden Patrizia CIOFI mit großen Erfolg. Seit 1999 hat sie in Paris Lucia und „Rosenkavalier“-Sophie gesungen und ist über die Subrettenrolle der Nannetta schon etwas hinaus. Bleiben Falstaffs Saufkumpane: Ian CALEY gab dem Doktor Cajus stimmlich und darstellerisch seine lange Bühnenerfahrung und war einfach hinreißend. Sergio BERTOCCHI als Bardolfo und Miguel Angel ZAPATER als Pistola waren in jeder Hinsicht blendend.

Ein genußvoller Abend, den das Publikum zu Recht feierte! wig.

P.S.: Trotz des großen Angebots läßt die Koordination des Repertoires zwischen den verschiedenen Opernhäusern in Paris einiges zu wünschen übrig. Nach dem „Falstaff“ 1999 in der Bastille gab es einen im Châtelet (mit Lafont!) und dann 2001 eine Produktion in Aix, die im vergangenen Jahr in Paris gezeigt wurde. „Cenerentola“ wird heuer in Garnier und auch im Théâtre des Champs Elysées zu hören sein (warum nicht den reizenden „Turco in Italia“ oder die prächtige „Donna del Lago“ spielen?). In zwei Wochen gibt es in der Bastille eine Wiederaufnahme der Willy-Decker-Produktion von „Eugen Onegin“, sechs Wochen nach dem des Mariinski im Châtelet.

Aber seit vielen Jahren gab es weder „Trovatore“, noch „Aida“, „Forza del Destino“, „Fürst Igor“, „Pagliacci“, „Cavalleria rusticana“ oder „Tannhäuser“ zu sehen. Opern wie „Ernani“, „I due Foscari“, „Battaglia di Legnano“, „Il Corsaro“, „Luisa Miller“, „La Juive“, „I Puritani“, Donizettis Tudor-Opern („Roberto Devereux“, „Anna Bolena“, „Elisabetta“), „La Gioconda“, „Mazeppa“, „Andrea Chenier“, „Fedora“, „Mefistofele“ - von Meyerbeer nicht zu reden - sind in Paris so gut wie unbekannt...