"LES TROYENS"- 22. Oktober 2003

Hector Berlioz‘ 200. Geburtstag ist der Anlaß, daß seine Werke auch in Frankreich wieder zur Aufführung kommen. Er war in seiner Heimat ja nie sonderlich erfolgreich. Sein cholerisches Temperament und seine bissigen Kritiken in verschiedenen Zeitungen halfen natürlich nicht, sich Freunde zu machen. Nach 200 Jahren wird es langsam Zeit, daß dieses außergewöhnliche Genie endlich in Frankreich anerkannt wird. Im 20. Jahrhundert war Berlioz eine englische Angelegenheit, vor allem dank der Bemühungen von Colin Davis. Aber schon Sir Thomas Beecham hatte Berlioz sehr viel gespielt und aufgenommen. Auch diese – erste komplette – Aufführung von „Les Troyens“ in Paris war wieder fest in englischen Händen.

„Les Troyens“, sein bedeutendstes Werk für die Szene, wurde lange als unaufführbar bezeichnet. Berlioz schrieb selbst das Textbuch nach Virgils „Äneide“, die er in früher Jugend kennen gelernt hatte, ergänzt mit einer zusätzlichen Szene aus Shakespeares „Kaufmann in Venedig“ (der Text des Duetts, „O nuit d’ivresse“, zwischen Dido und Äneas im 4. Akt stammt großteils aus der Szene zwischen Jessica und Lorenzo).

Als Berlioz 1856 Liszt in Gotha besuchte, der drei Jahre vorher seinen „Benvenuto Cellini“ in Weimar zur deutschen Erstaufführung gebracht hatte, war der Text fertig, und Berlioz hatte die Komposition begonnen. Er sollte nie den 1. Teil („La Prise de Troie“) hören, sondern 1863 nur die Aufführung des (gekürzten) 2. Teils („Les Troyens à Carthage“) erleben – und das nach unglaublichen Schwierigkeiten. Erst 1890 fand die Uraufführung beider Teile (auf deutsch) unter Felix Mottl in Karlsruhe statt.

Wie Wagner, der praktisch gleichzeitig am „Ring“ arbeitete, wollte Berlioz eine neue, ideale, utopische Oper schreiben, ein Werk der Zukunft. Wie Wagner war Berlioz von Gluck, Weber und Spontini stark beeinflußt, Komponisten die beide bewunderten. „Les Troyens“ ist in jeder Hinsicht ein ungewöhnliches Werk - schon wegen der Länge (über 4 Stunden Musik!), jedoch im Gegensatz zum „Ring“, nicht hoffnungslos. Es behandelt zwar den Untergang von Kulturen, der trojanischen (direkt) und der karthagischen (projiziert), aber am Ende steht auch die Verheißung einer neuen, der römischen Kultur, wenn Clio (hier die verwandelte Seherin Cassandra) „Fuit Troja, stat Roma“ prophezeit. Dieser utopische Aspekt ist vermutlich einer der Gründe des fehlenden Interesses des französischen Publikums. Es wird zwar eine einigermaßen blutrünstige, heldische Geschichte erzählt, aber der Held Äneas paßt nicht in die Konzepte des 19. Jahrhunderts, denn er verschmäht einen Königsthron, um seiner Sendung zu folgen. Berlioz hat bewußt auf die klassische französische Tragödie Racines und die musikalischen Gegenstücke Rameaus zurück gegriffen und einen völligen Bruch mit der Form und Tradition der italienischen und französischen Oper des 19. Jahrhunderts vorgenommen. Mit Berlioz‘ Charakter der Neuerung verwandte er auch neue Instrumente, vor allem die Adolphe Sax erfunden hatte, Saxhorn und Ophicléide, die so Eingang in den Orchestergraben gefunden haben.

Die Rehabilitierung der „Troyens“ durch das Châtelet ist ein nachahmenswertes Beispiel der Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur, Yannis KOKKOS (Regie, Bild, Kostüme) und dem Dirigenten, Sir John-Elliot GARDINER. Ein einfaches,farbiges Bühnenbild ist von den Klassizisten (Palladio) und historisierenden Gemälden (Turner) inspiriert. Die „Cité idéale“ wird auf den Vorhang und den Hintergrund projiziert. Eine verkehrte, d. h. aus dem Hintergrund aufsteigende, Stiege ist das wichtigste Bühnenelement. Die Idee, mittels eines riesigen Spiegels (dem Zuschauer unsichtbar am Schnürboden), die aufsteigenden Trojaner zu verdoppeln, oder der Kopf des trojanischen Pferds – ein Schimmel - nur als Spiegelbild sichtbar zu machen, kann man getrost als genial bezeichnen. Während des ganzen letzten Akts habe ich mir den Kopf zerbrochen, wie die, hier von vorne aufsteigende, Stiege wie eine Brücke gespiegelt wird. Faszinierend!

Die trojanischen Szenen sind dunkel bis zum brennenden Troja, außer Cassandra, ganz in weiß, während die karthagische Welt in Pastellfarben erscheint. Die Personenführung ist, der durchdachten Regie entsprechend, ausgezeichnet. Der fast ständig anwesende achtzigköpfige Chor bewegt sich ohne jegliche Künstlichkeit, die durchwegs vorzüglichen Sänger sind in perfekter Harmonie mit Musik und Bühne, ebenso wie das sehr gelungene Ballett der Zimmerleute, Fischer und Bauern im 3. Akt (Choreographie Richild SPRINGER). Zum Zwischenspiel des 4. Akts, der berühmten „Chasse Royale“, wird als Video (von Eric DURANTEAU) eine afrikanische Savannenlandschaft auf den Zwischenvorhang projiziert, in der das trojanische Pferd galoppiert.

Diese außergewöhnliche Produktion ist ein Beweis, daß eine gut durchdachte Regie, mit einem Konzept, das auf dem Geist der Musik und des Textes beruht, eine moderne, aber auch höchst poetische Inszenierung ergeben kann. Aber auch ein konservatives Publikum kann damit etwas anfangen.

Die musikalische Seite ist außergewöhnlich anspruchsvoll, sowohl für das Orchester als für die Sänger. Sir John-Elliot Gardiner hat sein ORCHESTRE RÉVOLUTIONAIRE ET ROMANTIQUE aufgeboten, sowie eine größere Banda auf der Bühne mit den berühmten Saxhörnern, die der elsässische Instrumentensammler Bruno Kampmann leihweise beigestellt hatte. Gardiners MONTEVERDI CHOIR und der CHOEUR DU CHÂTELET stellten je vierzig Sänger, von Donald PALUMBO bestens einstudiert, die die vielen Chorszenen belebten. Die perfekte französische Diktion und Wortdeutlichkeit, sowie die darstellerische Aktivität soll hervorgehoben werden. Gardiner dirigierte mit ansteckendem Enthusiasmus und sichtlicher Liebe diese ungeheure Partitur (mit 2 Pausen dauert die Aufführung 5 1/2 Stunden!).

Von den Sängern sind in erster Linie die beiden weiblichen Hauptrollen zu nennen. Beide Rollen liegen zwischen Mezzosopran und dramatischem Sopran (in vielen gekürzten Fassungen von der selben Sängerin gesungen). Anna Caterina ANTONACCI interpretierte Cassandras Weissagungen mit großer Intensität, eine großartige Sängerin und Schauspielerin. Ganz in weiß gekleidet ist die bildschöne Sängerin auch eine Augenweide. Das Treffen mit Chorebe war ungemein ausdrucksstark. Als Dido war Susan GRAHAM eine noble Königin, eine liebende Frau und ihr erschütternder Abschied war der einer großen Tragödin.

Die ebenso lange wie schwierige Rolle des Énée liegt zwischen französischem lyrischem und Heldentenor. Außerdem ist der Sänger fast ständig auf der Bühne. (Mit Hugh Smith gab es eine Zweitbesetzung.) Gregory KUNDE, mehr als Rossini-Tenor bekannt, sang diese mörderische Partie mit Bravour und szenischer Präsenz. Man kann ihm allerdings anraten, diese Rolle nicht zu oft zu singen, denn bisweilen schien er die Grenzen seiner Möglichkeiten zu erreichen. Ludovic TÉZIER lieh seinen herrlichen Bariton dem Chorebe, dem Geliebten Cassandras, und stellte wieder eine Prachtfigur auf die Bühne.

Die vielen weiteren Sänger waren alle ausgezeichnet: die junge Kroatin Renata POKUPIC übernahm kurzfristig die Rolle der Schwester Didos Anna. Sie umgab mit glockenreinem Mezzo-Sopran Dido mit Sorgfalt und Liebe. Ebenso wie Laurent NAOURI seinen Prachtbaß dem Narbal lieh und Dido beriet. Sehr treffend waren Laurent ALVARO und Nicolas COURJAL in den Bufforollen der beiden Trojaner, die absolut nicht nach Italien wollen, weil sie sich bereits eine schöne Carthagerin angelacht haben.

Die junge Stéphanie d’OUSTRAC entledigte sich bestens der verspielten Rolle des Ascagne mit Takt (Ascagne zieht diskret Dido den Ring ihres verstorbenen Gatten vom Finger.), Topi LEHTIPU als Hylas, königlicher Hauspoet der Dido, sang mit seinem hohen Tenor „Oh blonde Cérès“ subtil und meisterhaft. Marc PADMORE als Iopas, Nicolas TESTÉ als Pantheus, Fernand BERNADI als Hectors Geist, René SCHIRRER als Priamus und Merkur und Danielle BOUTHILLON als Hekuba waren mehr als rollendeckend und vervollständigten vorteilhaft die ausgezeichnete Besetzung.

Ein perfekter Abend, ein Triumph, das Publikum tobte und feierte die Künstler stürmisch. Das Châtelet wird eine DVD Aufzeichnung der „Troyens“ herausbringen. Allen Opernliebhabern, die ein bedeutendes, wenig gespieltes Werk und eine echte Rarität in einer vorbildlichen Aufführung sehen wollen, ist diese Produktion sehr zu empfehlen. wig.

P.S.: Die Aufführung am Sonntag Nachmittag (26. 10.) wurde direkt auf dem öffentlichen Fernsehen (France 2 den 1. Teil und France 3 den 2. Teil) und simultan auf UKW von France-Musiques übertragen.