“PERELÀ, UOMO DI FUMO” - 24. Februar 2003

Operndirektor Hugues Gall setzt seine Politik der Uraufführungen von Auftragswerken neuer Opern fort. Nach „Salambò“ von Philippe Fénélon (1999), „K…“ von Philippe Manoury (2001, wird Ende April wieder aufgenommen) und „Medea“ von Rolf Liebermann (2002), wurde das jüngste Werk des franz. Komponisten Pascal Dusapin uraufgeführt. Es ist seine 4. Oper und beruht auf dem in Italien sehr bekannten und immer wieder aufgelegten Roman „Il Codice di Perelà“ (1911) des Futuristen Aldo Palazzeschi (1885-1974). Eine kurze Biographie der beiden Künstler ist am Ende des Artikels.

Aus den sechzehn Kapiteln der sehr komplexen Handlung des Romans hat Dusapin selbst (auf Italienisch) zehn Kapitel für das Libretto extrahiert. Perelà, der Rauch-Mann, hat drei Mütter (Pere, Rete und Lama) und erscheint plötzlich und verschwindet zum Schluß ebenso spurlos in einer Art „Himmelfahrt“. Kuriose Außenseiter und Einzelgänger sind nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Musik des 20. Jahrhunderts weit verbreitet, man denke an Bergs „Wozzeck“, Hindemiths „Cardillac“ oder Martinùs kürzlich in Paris aufgeführte „Juliette“. Jacques Tati hat mit Monsieur Hulot eine solche Figur auf die Leinwand gebracht. Ein „reiner Tor“, ein Parsifal unserer Zeit. Perelà hat aber auch Züge, die an Christus erinnern. Er fällt durch seine Güte auf und sagt nicht sehr viel („Io sono leggero!“ ist alles was er bei seinem „Prozeß“ vorbringt). Auch die gesamte Handlung des Werks zeigt Ähnlichkeit mit einer messianischen Figur, sein Alter (33 Jahre), der Enthusiasmus des Volks für ihn, das ihm zum Verfasser des neuen „Codice“ ernennt, ihn aber nachher ebenso verdammt. Die zweite Hauptfigur, die Marquise Oliva di Bellonda, eine Figur einer Büßerin, erinnert natürlich an Maria Magdalena. Palazzeschi hat aber immer irgendwelche religiöse Intentionen abgewiesen (er bekehrte sich erst mit 80 Jahren zum Katholizismus).

Die Musik des ausgesprochen packenden Werks ist wahrlich nicht einfach. Sie ist niemals exzessiv, durchaus „tonal“ (man denkt oft an Bartok, aber auch an Berg), von der lyrischen Cello-Begleitung für die madrigalistische Chor-Einleitung zu Beginn der Oper bis zur apokalyptischen Prozeß-Szene im 9. Kapitel, die dann in Perelàs „Himmelfahrt“, eine zwei Minuten lange, abgeklärte Schluß-Szene, ausklingt. Dusapin verwendet mehrmals sehr geschickt Schlagzeug (was sehr an Varese erinnert) und eine Blaskapelle auf der Bühne spielt einen Gassenhauer, wenn immer der (winzige und stumme) König auftritt. Die Musik spiegelt oft die absurde Handlung wieder; so ist der hysterische Erzbischof ein Countertenor, während der „gute“ Alloro, der Perelà folgt und nicht versteht, wie dieser handelt und Selbstmord begeht (Mit „Come à potuto fare?“ schließt sein letzter Auftritt), ein lyrischer, tiefer Baß ist. Eine Flötistin in engem Trikot spielt eine traurige, träumerische Melodie an wichtigen Szenen-Enden. Mit seinen ständigen Takt-Änderungen, ist das Werk rhythmisch äußerst komplex (auch das erinnert an Bartok, vor allem den „Wunderbaren Mandarin“). Man muß eine solch schwierige Oper mehrmals hören, das ist klar.

Die Bastille-Oper ließ sich die Aufführung was kosten, denn sie wartete mit einer phantastischen Produktion auf. Schon daß Hausherr James CONLON sich mit sichtlicher Begeisterung dieser schweren Partitur angenommen hat, ist bemerkenswert, und es ist natürlich in erster Linie ihm zu danken, daß die Premiere ein Bombenerfolg wurde. Er hat mit dem Orchester hörbar bestens geprobt. Ganz besonders wichtig war auch die Teilnahme des CHŒUR ACCENTUS. Dieses Ensemble besteht aus 32 Sängersolisten und wird seit seinem Anfang vor zehn Jahren von Laurence EQUILBEY mit großem Erfolg geleitet. Die Homogenität des Ensembles ist bestechend, und viele der jungen Sänger spielten Solistenrollen.

John GRAHAM-HALL spielte sehr abgeklärt die Titelrolle im Trenchcoat, mit einen verbeulten Hut und sitzt meistens auf einem Koffer. Er sieht aus wie Tatis M. Hulot (es fehlte nur der Schirm), was für den mysteriösen, vom Himmel gefallenen Rauchmann sehr paßt. Sein kultivierter hoher, sehr englischer Tenor paßte perfekt für den durch die Handlung nachtwandelnden Rauch-Mann. Nora GUBISCH gestaltete die Marquise Oliva di Bellonda stimmlich und darstellerisch hinreißend. Die junge Mezzosopranistin, Spezialistin für moderne Opern (sie war in zwei der drei genannten Uraufführungen in Hauptrollen zu sehen), führt die Gesangslinie dieser besonders schwierigen Rolle prachtvoll. Absolut perfekt!

Youngok SHIN war eine majestätische Königin, begleitet von ihrem Papagei Daniel GUNDLACH, der immer „Dieu“ kräht. Von den Nebenrollen stachen Chantal PERRAUD als Alloros Tochter, Dominique VISSE als hysterischer Erzbischof, Scott WILDE als Alloro und Ankläger hervor. Die anderen Rollen waren völlig rollendeckend besetzt: Martine MAHÉ, Isabelle PIERRE, Gregory REINHART, Jaco HUIPEN, Nicolas COURJAL und zahlreiche Mitglieder des CHŒUR ACCENTUS.

Die Inszenierung war Peter MUSSBACH anvertraut. Sein Kollege Erich WONDER baute eine ganz einfache Einheitskulisse: ein Hügel, dessen abfallende Seiten teilweise aufgeklappt werden oder aufbrechen können. Ein paar glitzernde Stores, Versatzstücke und Projektionen genügen um abwechselnd eine träumerische oder gefahrvolle Stimmung hervorzurufen. Andrea SCHMIDT-FUTTERER zeichnete für die phantasievollen Kostüme. Wie bereits erwähnt, sieht Perelà wie M. Hulot aus. Marquise Oliva trägt ein hautenges weißes Kleid, mit bizarren Auswüchsen an den Hüften. Die Königin trägt ein Kleid mit mehreren Reihen goldener Rüschen, sehr beeindruckend, besonders wenn sie bei ihrem ersten Auftritt auf Koturnen steht. Die zahlreichen kleinen Rollen (mehrere Sänger singen zwei oder drei Rollen) tragen Masken, die zwischen feenhaft und erschreckend sind. Die Hofschranzen und das Volk in grotesken schwarzen Lederkleidungen kriechen wie Käfer über die Bühne. Alexander KOPPELMANN unterstrich mit sehr passender Beleuchtung diese ungewöhnliche, oft beklemmende Atmosphäre. Peter Mussbach nützte diese mysteriöse Ausstattung und leitete die Sänger sehr gewollt mit fester Hand durch die einigermaßen chaotische Handlung.

Ein sehr faszinierendes Werk, das man unbedingt wieder hören muß. Bis Mitte März noch in der Bastille, wird die Aufführung im Mai mehrmals in Montpellier (dank einer Koproduktion) zu hören sein. Das rammelvolle Haus – sehr viel Prominenz bei der Premiere – spendete stürmischen Beifall. wig.