“DER DÄMON” - 29. Januar 2003

Die wirkliche Sensation des Mariinski-Gastspiels war natürlich Rubinsteins “Dämon”! In Paris wurde diese Oper nämlich nur ein einziges Mal 1911 auf Französisch im Théâtre Sarah Bernhardt (jetzt Théâtre de la Ville, gegenüber vom Châtelet) gespielt. Außerhalb Rußland sind uns nur zwei Produktion in den letzten Jahren bekannt – vor einigen Jahren bei den Festivals in Wexford und Bregenz.

Anton Rubinstein (1829-1894) war ein Wunderkind, und mit zehn Jahren triumphierte er als Pianist auf Konzertreisen nicht nur in Rußland, sondern auch in ganz Europa und Amerika (über 200 Konzerte in acht Monaten!!). Mendelssohn und Meyerbeer bewunderten ihn. Er studierte Komposition in Berlin bei Siegfried Dehn, der schon Glinkas Lehrer gewesen war. Als er 1849 mit zwanzig nach Petersburg zurückkehrte, rief er zur Bildung eines russischen Konservatoriums auf, denn um Komposition zu studieren, mußte man ins Ausland gehen. Er erreichte das schließlich und das Petersburger Konservatorium wurde 1862 gegründet. Einer der ersten Schüler war Tschaikowski. Rimski-Korsakoff war einer der ersten Professoren für Komposition und Harmonielehre. Konservatorien wurden auch in Moskau und anderen Städten gegründet. Seinem Bruder, dem Pianisten und Dirigenten Nikolai Rubinstein, vertraute er die Direktion des Moskauer Konservatoriums an, der dort u.a. die Uraufführung von “Eugen Onegin” leitete.

Rubinstein schrieb als wirklicher Kosmopolit Werke in allen Sprachen und Stilen und hat sehr viel komponiert, u.a. siebzehn Opern, sechs Symphonien, sechs Klavierkonzerte, symphonische Dichtungen, Kantaten, über hunderfünfzig Lieder (in allen Sprachen), Klaviermusik usw.. Nicht alles ist jedoch erhalten und wenig ist im Repertoire geblieben. Er näherte sich der “Gruppe der Fünf” erst spät. Cesar Cui sagte bösartig, Rubinstein sei kein russischer Komponist, sondern ein Russe, der komponiert. “Der Dämon” wurde am 13. Jänner 1875 in Petersburg mit riesigem Erfolg uraufgeführt, gefolgt von mehren, sehr erfolgreichen Opern, u.a. ein “Néron” für die Pariser Oper und “Ein Steppenkind” oder “Unter Räubern” für Wien.

Das Thema der Erlösung durch Liebe beschäftigte die ganze Romantik (man denke an “Faust”, “Holländer” oder “Parsifal”). Heute sagt uns der Weltschmerz der Liebespaare in “Onegin” schon nicht mehr sehr viel. Die Unbefriedigung mit dem Leben in eine diabolische Geschichte verpackt, ist an der Grenze des Lächerlichen. In dem auf einem dramatischen Gedicht des siebzehnjährigen (!) Lermontov beruhenden orientalisierenden Libretto wimmelt es von höllischen und himmlischen Heerscharen, es trieft von sentimentaler Religiosität und sehr larmoyanter Erlösung durch die Liebe (wo sich der Schutzengel einmischt!). Man muß sich bisweilen sehr zurückhalten, um nicht zu lachen. Die Oper ist heute praktisch nicht inszenierbar, wie andere, im 19. Jahrhundert sehr beliebte, Teufelsgeschichten (z.B. “Freischütz”, “Robert le Diable”, ja selbst die verschiedenen “Faust” Fassungen).

Die Partitur Rubinsteins ist stark von der deutschen Romantik beeinflußt und vereint romantische Intensität (viel Verwendung der Holzbläser), mit bisweilen chromatischen Läufen. Es gibt auch sehr bombastische Ausbrüche, ja richtigen Klamauk. Anderseits ist russische Folklore in die Chöre eingeflochten.

Die beiden Hauptrollen, die Prinzessin Tamara und der Dämon, ein Luzifer ähnlicher gestürzter Engel, sind sehr gut konzipiert und haben prächtige Arien und Szenen. Die Oper spielt in Georgien zur Zeit der Tataren-Einfälle. Im Prolog wird bereits der Rahmen gesetzt: nach dem Kampf der bösen und guten Geister in einem riesigen, sehr lauten meyerbeerhaftem Chor, tritt der Dämon auf und singt einen großen Monolog “Freudlos suche ich das Übel!”. Die folgende, sehr schöne Chorszene der Prinzessin Tamara zu Beginn des 1. Akts verwendet ein georgisches Volkslied über den Fluß Argava und dem darin lebenden goldenen Fisch. Das Duett des 3. Akts erinnert an das Duett Senta - Holländer. Es ist nicht überraschend, daß der Dämon zu Schaljiapins Paraderollen zählte. Auch die Nebenrollen sind gut gezeichnet, wie der Prinz Sinodal (der nicht sehr lang auf der Bühne steht, er wird im 1. Akt ermordet), der eine prächtige, sehr ausdrucksvolle Arie hat.

Valery GERGIEV konnte die ganze Palette seines ORCHESTERS zeigen, die samtene Seite, ebenso wie die rauschhafte Macht der an Grand Opéra erinnernden großen Finales und Chorszenen. Der CHOR DES MARIINSKI unter Andrei PETRENKO hat hier sehr viel zu tun und bestach wieder durch die Pracht und Präzision der Stimmen.

Evgeny NIKITIN dominierte in der Titelrolle. Der junge Sänger besitzt einen Baß-Bariton von ungewöhnlicher Dichte und Ausdruck, mit der Tiefe eines schwarzen russischen Basses und einer beeindruckenden Höhe. Sicher eine der prachtvollsten, ausgeglichensten Stimmen, die seit Jahren aus Rußland gekommen ist. Sein verhaltenes Spiel gibt dem Dämon einen fast sympathischen Zug. Marina MESCHERIAKOVA besitzt die strahlende Stimme für die etwas überspannte Prinzessin Tamara. Sie dominierte spielend die großen Chöre und drückt die lyrischen Ergüsse mit großer Wärme aus.

Ilya LEVINSKY hat auch hier (wie im “Goldenen Hahn”) die Kurzrolle des bald ermordeten Prinzen Sinodal und meisterte die Traumszene mit angenehmen, ausdrucksvollem Tenor. Der etwas lächerlichen Rolle des Schutzengels wurde Natalia EVSTAFIEVA mit schönem angenehmem Mezzo gerecht. Nikolai OKHOTNIKOVs prächtiger Baß war perfekt für den alten Diener des Prinzen Sinodal.

Olga MARKOVA-MIKHAILENKO ist anscheinend für Ammenrollen abonniert, denn auch hier lieh sie ihren warmen Mezzo der Amme Tamaras. Tamaras Vater, der nicht sonderlich aktive Prinz Gudal, wurde von Guennady BEZZUBENKOV passend ausgedrückt. Alexander TIMCHENKO war der Bote, der Sinodals Tod ankündigt und der dann den resignierten Prinzen Gudal mit frischem Tenor dazu bringt, seinen ermordeten Herrn Sinodal zu rächen.

In Paris hatte Lev DODIN “Pique Dame” in der Bastille-Oper in ein Irrenhaus verlegt. Ein ähnliches Fiasko war daher zu befürchten. Dodin behandelt aber das Thema als eine menschliche Tragödie, die des in der Welt herumirrenden Luzifer, des durch Stolz gefallenen Engels. Die düsteren oder folkloristischen Bühnenbilder von David BOROVSKY werden innerhalb eines Rahmens einer ausgeschnittenen russischen Kirche mit einen ausgeleuchteten Kirchturm im Hintergrund angeordnet. Chloé OBOLENSKY steuerte die recht passenden, nicht sonderlich phantasievollen, aber nicht überladenen Kostüme bei. Jean KALMAN zeichnete für die gute Beleuchtung. Diese Produktion wurde im Châtelet kreiert und wird nun ins Repertoire der Petersburger Oper aufgenommen.

Die Personenführung Dodins ist zurückhaltend, außer wenn Tamara nach dem Tod Sinodals völlig hysterisch durchdreht und ins Kloster geht. Der 3. Akt im Kloster mit der Konfrontierung zwischen Tamara und dem Dämon ist sehr gelungen, da etwas ruhiger. Die Sänger können hier ihre Persönlichkeiten und Stimmen am besten entfalten. Vom völlig unmögliche Epilog rede man besser nicht: Tamara liegt in einem mit weißer Seide ausgeschlagenem Sarg, umgeben von weißen blühenden Bäumen. Ihre Seele fährt unter Engelschören in den Himmel auf! Furchtbarer Kitsch! Wie bereits gesagt: wenn selbst ein “enfant terrible” wie Dodin, keine Lösung findet, heißt dies, daß die Oper uninszenierbar ist! Übrigens, hat jemand schon einen erträglichen “Freischütz” in den letzten Jahren gesehen (außer den von André Engel in Strasbourg und Savolinna)?

Das Gastspiel des Mariinski Theaters war ein beispielloser Triumph. Wir hoffen auf ein weiteres Gastspiel, mit anderen, weniger bekannten russischen Opern. Der Direktion kann man nur gratulieren, dieses Experiment gewagt zu haben! wig.