"SAINT FRANCOISE D'ASSISE"- 6. Oktober 2004

Hundert Jahre nach Wagners „Parsifal“ hat Olivier Messiaen, einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts „seine“ Oper geschrieben. Obwohl Messiaen der Meinung war, daß er für das Theater nicht geeignet sei, ließ er sich 1975 doch vom damaligen Direktor der Pariser Oper, Rolf Liebermann, überreden und schrieb acht Jahre lang an seinem einzigen Bühnenwerk. Im Herbst 1983 wurde „Saint François“ in der Pariser Garnier Oper unter Seji Ozawa in einer gelungenen Inszenierung von Sandro Sequi erfolgreich uraufgeführt – bereits mit José van Dam in der Titelrolle. Zehn Jahre später ist „Saint François“ von Peter Sellars unter Sylvain Cambreling in der Bastille inszeniert worden (auch bei den Salzburger Festspielen zu sehen gewesen). Es ist dies also die dritte Produktion dieses außergewöhnlichen Werkes in Paris. Eine Wiederaufnahme einer früheren Produktion wäre vermutlich besser gewesen, denn diese Neuinszenierung war wirklich nicht notwendig.

Der Vergleich mit „Parsifal“ drängt sich in vieler Hinsicht auf. Beide Werke sind Mysterien, in denen die Wundmale eine zentrale Rolle spielen. Es sind Spätwerke, musikalische Testamente, sind sehr lang und bedürfen großer Konzentration für über vier Stunden sehr anspruchsvoller, schwieriger Musik. In beiden Werken hat der Komponist das Textbuch selbst verfaßt und viele persönliche Erlösungsphilosophie eingeflochten. Beide Komponisten haben auch besonders präzise Anweisungen für Regie und Ausstattung gegeben: das nur zehn Seiten lange Textbuch des „Saint François“ enthält etwa ein Drittel Regieanweisungen!

Während Wagner das romantische Orchester zur Hochblüte gebracht hatte, hat Messiaen dieses Orchester noch weiter ausgebaut und hier mit einer ansehnlichen Zahl von Schlaginstrumenten (Windmaschine, Glocken, Gonge, Vibraphon, Orgel, zwei Xylophone, drei Ondes Martenot u.v.a.) ergänzt und sein großes Interesse für Vögel auf elektronischen Tonträgern festgehalten und in seine Werke eingeflochten. Beide Komponisten haben mit ihrer Musik für Jahrzehnte einen Orchesterstandard gesetzt. Beide Werke bedürfen deshalb großer Chor- und Orchestermassen, sind besonders anspruchsvoll und brauchen ein entsprechend großes Theater. Im Gegensatz zu Wagner hat Messiaen gelehrt und eine Großzahl der wichtigsten lebenden Komponisten – von Pierre Boulez bis Yannis Xenakis und Karl-Heinz Stockhausen – geformt (der 7. und letzte Band seines „Traité de rythme, de couleur et d’ornithologie“ ist eben erschienen).

Messiaen war ein tief gläubiger, ja, mystischer Christ und verehrte den hl. Franziskus ganz besonders. Sein religiöses Engagement war bereits in der Tatsache gegeben, daß er über vierzig Jahre in der Sonntagsmesse die Orgel der Pfarre der „Trinité“ in Paris spielte, die er mit einer längeren Orgelimprovisation beschloß (habe ich selbst gehört, u. a. eine, die etwa zwanzig Minuten gedauert hat).

Der Text des „Saint François“ ist den Schriften des hl. Franziskus entnommen, den „ Fioretti“, der Vogelpredigt und dem Sonnengesang. Diese zu tiefst religiösen Texte sind in ihrer naiven Einfachheit ungemein aktuell und vielsagend. Diese menschliche Botschaft steht im Gegensatz zu Gewalt und Ausschluß. Es ist ein Hohelied des Friedens, der Versöhnung und der Armut, absolut nicht „politisch korrekt“ für unsere Zeit. Die Vögel, der Engel, der Aussätzige sind die Vehikel dieser Botschaft. Messiaen hat diese Botschaft mit seiner modernen Musik bekleidet, in der jedoch das Wort nicht zu kurz kommen darf und verständlich bleiben muß. Das resultierende Parlando, direkt von Monteverdis parlar cantando beeinflußt, wird durch Tonballungen, Cluster, Xylophon-Soli oder charakteristischen Steigerungen der Ondes Martenot (bei jedem Auftritt des Engels) unterstrichen. Sicher, diese Musik ist gewöhnungsbedürftig und verlangt ständige Aufmerksamkeit und größte Konzentrierung.

Daß Messiaen sehr detaillierte, wichtige Regieanweisungen gegeben hat, scheint den Regisseur der Produktion, Stanislas NORDEY, und sein Team (Emmanuel CLOLUS/Bild und Raoul FERNANDEZ/Kostüme) absolut nicht berührt zu haben, denn sie kümmerten sich überhaupt nicht um Messiaens Anweisungen. Bereits die Kostümierung weist weder den Heiligen noch seiner Jünger als Mönche aus, sie könnten irgendwelche Arbeiter oder Bauern sein. Das Einheitsbühnenbild des 1. Akts besteht aus einem großen überhöhten schiefen quadratischen Tisch, auf dem sich die recht statischen Ereignisse abspielen. Anderswo nennt man das eine „Mise en espace“, eine Raumgestaltung einer konzertanten Aufführung. Von Personenführung ist hier natürlich nicht die Rede – auch nicht gefragt – außer den Kuß an den Aussätzigen.

Der 2. Akt ist von einer riesigen, bizarren Pforte dominiert, auf der die Frage des Engels über die Prädestination projiziert ist. Der Engel zieht ein gläsernes Köfferchen nach, in dem seine Flügel stecken. Ab dem 5. Bild beginnt das Leiden des Hl. Franziskus, denn der Ärmste steht auf einem, aus einer schrägen grünen Wand herausragenden kleinen Brett in etwa 3 Meter Höhe unbeweglich wie ein Säulenheiliger und singt seinen Sonnengesang. Auf dem halbrunden Hintergrund ist die Engelsfrage vielmals aufgezeichnet. Der Engel erscheint ihm einen Meter höher aus dieser Wand. In der 6. Szene, der Vogelpredigt, steht François auf einer erhöhten Kanzel in einem riesigen, schrägen, vielfach unterteilten, Glasquadrat, das einer Satellitenantenne gleicht.

Der dilettantische Unsinn erreichte seinen Höhepunkt, wenn in der 7. Szene (im 3. Akt), Saint François die Stigmata, die Wundmale Christi, empfängt. Der Heilige steht wieder auf einem winzigen Brett vor einer riesigen aufgeteilten Glaswand, drei Meter über dem Chor, der sitzend die ganze Bühne ausfüllt. Statt wie Messiaen angibt, ein riesiges Kreuz zu projizieren, von dem fünf rote Blitze den hl. Franziskus an den Händen Füßen und der Seite treffen (wo anders als in der Bastille-Oper wäre das eine Kleinigkeit?), werden die Scheiben der Glaswand von hinten von zwei Männern mit großen Bürsten (die man sieht!!) feuerrot angemalt. Die Schlußszene ist von erschütternder Banalität: Saint François stirbt und erreicht „das neue Leben“, begleitet vom Engel, dem Aussätzigen und den Brüdern, indem er sich nach hinten auf ein Tor mit Butzenscheiben, grell von hinten beleuchtet, begibt.

Das schwierige Werk hat Sylvain CAMBRELING – ein sehr engagierter Spezialist für Messiaen - sichtlich sehr geprobt und dem CHOR (Einstudierung Peter BURIAN), dem ORCHESTER und den zahlreichen zusätzlichen Musikern das Letzte abgefordert. Eine titanische Leistung!

José VAN DAM war wieder Saint François. Man kann ihm nur ungeteilten Beifall spenden, dem Märtyrer, der stundenlang in schwindelnder Höhe unbeweglich seine Gebete singt und mit Gott, dem Engel, den Brüdern und Vögeln dialogiert. 21 Jahre nach der Uraufführung ist er noch mehr in diese Rolle hinein gewachsen und identifiziert sich völlig mit der Heiligenfigur. Christine SCHÄFER war als Engel perfekt, leichtfüßig tanzte sie herein und sang mit glockenhellem Sopran die schwierige Partie. Christ MERRITT in weißem Anzug und mit völlig bandagiertem Kopf und Händen spielte sehr ergreifend den durch den Kuß François‘ geheilten Aussätzigen. Die Projektion der Genesung und seine Überraschung darüber, war der Lichtblick der verpatzten Inszenierung.

Unter den sechs Brüdern stach Charles WORKMAN als Frère Massée hervor, der mit jugendlicher Naivität den bäuerlichen Jünger charakterisierte. Christoph HORNBERGER war ein polternder Frère Elie, der sich seiner Wichtigkeit als Leiter der Gemeinde voll bewußt war, Roland BRACHT als frommer Frère Bernard war viel zurückhaltender und passend. Frère Léon hat immer Angst vor der Zukunft, was Bret POLEGATO treffend darstellte. Guillaume ANTOINE/Frère Sylvestre (der einzige Franzose der Besetzung) und David BIZIC/Frère Ruffin vervollständigten passend die Brüderschar.

Trotz vieler Prominenz und Jetset, war die Premiere mit Gymnasialklassen „ausgestopft“ worden, die übrigens sehr ruhig und aufmerksam waren. Doch der Saal der Bastille-Oper war trotzdem nicht voll. Das nach sechs Stunden ziemlich erschöpfte Publikum (4 1/2 Std. Musik plus zwei 45-Minuten-Pausen!) feierte Sänger und Dirigenten kurz, aber herzlich, während das Szene-Team Buh-Rufe einheimste. wig.