"KATIA KABANOVA"- 9. November 2004

Alexander Ostrowskis „Das Gewitter“ (1860) ist ein Vorläufer der psychologisch-sozialkritischen Literatur des Expressionismus und war in Deutschland, Nord- und Osteuropa am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts sehr verbreitet. In den Sittenbilder von Ibsen, Hauptmann, Tschechow, Gogol bis Wedekind und der alpischen Heimatliteratur Anzengruber und Ganghofer, zeichnen diese Theaterstücke und Romane eine in Gewohnheit und gesellschaftlichem Zwang eingepferchte Gesellschaft von Spießbürgern, Kaufleuten und Großbauern, deren verlogene Lebensart zum Himmel schreit. Der Expressionismus jedoch enthält die Gefahr, daß ein Regisseur in larmoyanten Kitsch verfällt, zumal der Verismus ja nicht weit ist (Janacek war ein großer Bewunderer Puccinis). Es soll unterstrichen werden, daß es sich hier nicht um klassenkämpferische, politische Literatur handelt, sondern um eine Anklage der kleinbürgerlichen Spießer-Gesellschaft, die nur auf „Was werden die Leute sagen?“ achtet. Nicht Proletarier, Kulaken oder Muschiks sind die Akteure, sondern recht wohlhabende Bürger, Großbauern und Kaufleute.

Dieser Punkt ist wichtig, denn genau das haben Christoph MARTHALER und seine Mitarbeiterinnen Anna VIEBROCK (Bild und Kostüme) und Stefanie CARP (Dramaturgie) nicht begriffen – oder wollten es nicht begreifen. Marthaler ist ja als Schweizer “Bürgerschreck“ bekannt und scheint sich um die Aussage eines Werks überhaupt nicht zu kümmern. Leider kann sich Janacek nicht mehr gegen diese präpotente Frechheit wehren.

Denn die 1998 in der Salzburger Felsenreitschule kreierte Produktion (damals bereits im Fernsehen übertragen, nach „Auftritten“ in Spanien und Toulouse nun auch in Paris als „Neuinszenierung“ gezeigt) ist wohl die größte Kalamität, die zu sehen mir gegeben war – und das nach über fünfzig Jahren aktiven Opernbesuchs. Denn hier wurde so ziemlich alles falsch gemacht und gegen das Werk inszeniert, sowohl musikalisch, als auch inhaltlich. Die Proletarisierung ist durch die Transposition der Handlung in einen schäbigen Hinterhof eines vergammelten Sozialwohnbaus aus der düstersten Ulbricht-Zeit gegeben, mit dreckigen Wänden, an denen der Putz abblättert und Blick auf das offene Schlafzimmer der Kabanicha (mit Fernseher aus einem VEB, sowie entsprechendem Mobiliar und Bett, auf dem Kabanicha und Dikoi bumsen – heute ja sehr “in“). Ein schwarzes Monstrum von Schrank thront an der rechten Wand (im Hof!) und dient einerseits als Wodka Reserve für die weitgehend dem Suff verfallenen Familie und anderseits als Tür für verschiedene Ab- und Auftritte. Wenn Kudrjas zu Beginn der Oper im Hof die Schönheit der Natur und der Wolga besingt, weiß man bereits, daß da was schief liegt.

Das geht so für fast zwei Stunden bis zum grotesken Selbstmord Katias in der Hoffontäne. Dazwischen werden abgeleierte Trivialitäten des „modernen“ DDR-Theaters der fünfziger Jahre verkauft: die Verfremdung und Ablehnung Katias wird dadurch gezeigt, daß während ihres halluzinierenden Monologs alle anderen mit dem Gesicht zur Wand stehen. Zwei unnötige Figuren sind auch noch zusätzlich eingeflochten: eine nicht weiter auffallende Frau (Caroline Bibas) und ein Blinder (Ulrich Voß), der in einem der acht (!!) Mistkübel-cum-Aschenbecher herumstiert, eine tote Ratte produziert und zu Ende des 2. Akts tobend herumläuft, grölend mit Sesseln herum wirft und die Bewohner des Wohnblocks anpöbelt. Ein Windstoß fegt zahlreiche Plastiksäcke in den Hof. Bisweilen beginnt einer der Bewohner im 1. Stock auf einer Geige zu spielen – zum Glück hinter verschlossenen Fenstern. Die Kostüme schwankten zwischen banal und häßlich.

Die Sache ist besonders bestürzend, da es eine sehr schöne Inszenierung von „Kátia Kabanová“ von Götz Friedrich gab. Es war eine der beiden Produktionen, die aus dem Palais Garnier Anfang der neunziger Jahre in die Bastille transferiert wurden. Diese Produktion zeichnete sich durch ihre unaufdringliche Diskretion aus und wurde mehrmals wieder aufgenommen.

Auch musikalisch ließ die Aufführung Wünsche offen. Sylvain CAMBRELING hat offenbar zu der so spezifisch tschechischen Musik Janaceks nur beschränkten Zugang. Zwar war das subtile Vorspiel gut gestaltet, aber bald hielt er an vielen Stellen Orchesterlärm für Ausdruck, so daß die Sänger – vor allem die Tenöre – total überdeckt wurden.

Der Höhepunkt und Lichtblick des Abends war ohne Zweifel die absolut hinreißende Darstellung der Titelfigur durch Angela DENOKE. Die Anti-Heldin gegen die spießbürgerliche Landbourgeoisie ist eine psychologisch äußerst schwierige Rolle, stimmlich und darstellerisch sehr aufreibend, aber gleichzeitig auch sehr lyrisch. Die junge Hamburgerin stellte mit naiver Frische sowohl die Leichtigkeit und Unbekümmertheit des jungen Mädchens in der Erzählung des Traums, in dem sie fliegen will und den Verführer raunen hört, als auch im subtilen Liebesduett mit Boris im 3. Akt mit inniger Bestimmtheit dar. Auch die halluzinierenden Ausbrüche, die sie an die Grenzen des psychischen Zusammenbruchs bringen, waren ungeheuer eindrucksvoll und erschütternd.

Ihre Gegenspielerin Kabanicha war Jane HENSCHEL, die der Haustyrannin eine etwas zu biedere Darstellung gab – wohl vom Regisseur gewollt. Stimmlich völlig überzeugend, fehlte hier die absolute Schlechtigkeit der Rolle. Christoph HORNBERGER spielte als Sohn Tichon treffend den von der Mutter unterdrückten Schwächling, stimmlich passend, wenngleich bisweilen vom Orchester überrollt. David KUEBLER war Boris, der Geliebte Kátias. Seine Gestaltung der Rolle war sehr gezügelt, im Gegensatz zu dem unnützen Getue auf der Bühne. Als einziger Tenor hielt er sich auch über die Orchesterwogen tapfer.

Roland BRACHT war treffend als tobender, alkoholisierter Dikoi, Boris‘ Onkel. Auch der ausgezeichnete Toby SPENCE als Dorflehrer Kudrjas, der Intellektuelle des Nestes, hatte mit der Orchestergewalt zu kämpfen. Hier erstmals in einer ersten Charakterrolle zu sehen, lieh er seinen angenehmen und ausdrucksvollen Tenor und spielte auch bestens. Seine Geliebte Varvara war Dagmar PECKOVÁ in einem häßlichen, viel zu engen blau-braunen Kleid. Sie war voll froher Einfachheit, sang entzückend und spielte die recht geriebene Unschuld von Lande ausgezeichnet.

Als Kuligin mußte Frédéric CATON mit seinem Freund Kudrjas Turnübungen machen, um Dikoi die Funktion des Blitzableiters zu erklären (für diesen Humbug wurde sogar ein Choreograph mit Thomas STACHE bemüht). Als Glacha und Feklucha waren Ulrika PRECHT und Tracy SMITH-BESSETTE rollendeckend. Arme Sänger! Dies ist nun die dritte Produktion, die bei weitem nicht das Haus gefüllt hat. Es ist zu befürchten, daß mit weiteren populären „Kassenreißern“ wie Poulencs „Dialogue des Carmélites“, Händels „Herkules“ oder Janaceks „Aus einem Totenhaus“ ein Defizit von katastrophales Ausmaßen erwirtschaftet wird, das der, bei Politikern nicht besonders beliebten, Opéra nicht sonderlich nützlich sein wird. wig.