"OTELLO"- 25. Juni 2004

Diese Neuinszenierung von Verdis Altersoper war keine zwingende Notwendigkeit. Die Produktion vor mehr als zehn Jahren hätte gereicht, zumal sie bei der Weltausstellung in Sevilla gezeigt wurde. Da es in Sevilla zu einem schweren Unfall kam (das Chorpodest brach ein und zwei Chormitglieder wurden dabei getötet und mehrere, teils schwer, verletzt), ist vermutlich diese neue Inszenierung gemacht worden.

Jedenfalls ist diese Produktion von Andrei SERBAN recht gelungen – was man nicht von allen seinen Inszenierungen sagen kann. Die Bühnenbilder von Peter PABST sind im Stil Vittorio Emmanueles und die prachtvollen Kostüme von Graciela GALAN sind zur Zeit des Risorgimentos; besonders die Uniformen sehen sehr nach Vittorio Emmanuele aus. Joël HOUBEIGT beleuchtete sehr differenziert die sehr unterschiedlichen Situationen.

Zum Sturmchor - alle in schwarzen Plastikmänteln - werden wilde Wellen auf einen Gazevorhang projiziert, es blitzt überall, wirklich zum Fürchten. Zum “Eviva” sieht man einen pompösen Palast im Hintergrund. Zu Otellos “Esultate” verschwindet der Palast und gibt den Blick auf den Hafen frei, mit einer großen Palme in der Mitte. Bei der Trinkszene wird mit rot-weißen Stangen eine Arena ausgespart, so daß alle in diesem Viereck ihren Sauflüsten nachgehen können, während große Feuerwerke im Hintergrund abgehen. Otello kann bei der Degradierung Cassio in schneeweißer Gardeuniform die Epauletten abreissen. Nicht ganz klar ist weshalb Otello bei “Venga la morte” mit zwei großen Dolchen herumfuchtelt.

Im 2. Akt sitzt Jago hinter einem gigantischen Regence-Schreibtisch und spielt mit einem Totenkopf. Ab hier ist ein Säulengang allgegenwärtig, entweder wie hier rechts, oder wie im 3. Akt, im Hintergrund. Als interessantes Detail steht rechts vorne Otellos Renaissance-Rüstung, gekrönt von Desdemonas Schleier. Ein Pope betet mit Desdemona im Hintergrund zu Jagos Credo. Die Auseinandersetzung zwischen Jago und Emilia wegen des Fazolettos ist regiemäßig sehr gut gelöst. Während des Schwurduetts zerreißt Otello den genannten Schleier von der Rüstung. Wie überhaupt Otello als der “Wilde” schlechthin gezeichnet ist, der ständig etwas zertrümmert, vom Schreibtisch fegt oder seine Umwelt brutalisiert.

Während Desdemona in den beiden ersten Akten in großem weißem Abendkleid erscheint, trägt sie im 3. Akt ein prächtiges bordeauxrotes Ballkleid. Das macht auch einigen Eindruck auf die venezianische Delegation, die auch die Presse mitbringt – Fernsehen gab’s noch nicht - Fotograf (im Smoking) und Stenographierdame (wie alle Chordamen in unglaublich eleganten, meist braunen oder schwarzen Kleidern von 1880; und die Hüte!!). Zum Schluß des Akts hängt Jago dem zusammengesunken Otello einen dicken roten Strick um den Hals, mit dem Rodrigo ihn wegzerren will.

Im 4. Akt ist die Bühne fast leer, bis auf einen japanischen Futon und drei halb-durchsichtige Paravents, die Otello bei seinem Auftritt einen nachdem andern mit seinem großen Sarazener-Dolch zerschneidet. Nachdem er Desdemona geküßt hat, streut er schwarze Rabenfedern um das Bett. Weshalb? Als Lodovico, Montano und alle anderen hereinstürzen, bedroht Otello sie mit einer Standarte, dreht sie dann um und ersticht sich damit. Er torkelt bis zur Palme und stirbt. Kein Zweifel, die Inszenierung ist packend, wenngleich etwas “too much”.

Die musikalische Seite war ganz ausgezeichnet. James CONLON nahm mit dieser Serie von Otello-Vorstellungen Abschied von der Pariser Oper als erster Dirigent des Hauses, dem er so viel gegeben hatte. Die neue Equipe Mortier-Cambreling wird sich sehr bemühen müssen, um an das nun gewohnte Niveau heranzukommen. Conlon zeigte mit dieser Aufführung, daß er als Operndirigent ziemlich wenig Konkurrenz hat. Der Chef des Hauses hat sich auch bei Verdi als äußerst profilierter Dirigent erwiesen, der sowohl die Wogen des Sturm- oder Feuerchors, als auch das “Ave Maria” Desdemonas begleiten und die Subtilitäten heraus arbeiten kann. Das ORCHESTER DER PARISER OPER spielte mit Leib und Seele und bereitete ihrem Chef zum Schluß eine triumphale Huldigung. Peter BURIAN hatte den PARISER OPERNCHO völlig in der Hand, und es war eine Freude, die Choristen singen zu hören.

Die Besetzung war auch nicht ohne. Vladimir GALUZIN ist derzeit der Aller-Welt-Otello, wie Domingo vor zwanzig oder del Monaco vor vierzig Jahren. Er beginnt allerdings auch die Unarten seiner illustren Vorgänger anzunehmen, d. h. zu outrieren und meistens forte zu singen. Das ist außer zu Ende des 1. Akts und im 4. Akt auch ständig der Fall. Nach dem Mord an Desdemona ist er daher auch stimmlich am Ende. Die Regieanweisung den “Wilden” zu spielen, liegt ihm sichtlich gut, wenn er Desdemona zu Boden wirft, Jago fast erwürgt oder mit einer Aktenmappe alles vom Schreibtisch schmeißt.

Jean-Philippe LAFONT als Jago ist die verkörperte Schlechtigkeit, schleimig, wenn er sich bei Otello einschmeicheln will, herrisch mit Emilia, verspielt-freundlich mit Rodrigo und Cassio, der Teufel schlechthin. Sein Credo ist von ekelhafter Eindeutigkeit, superb gesungen, mit diabolischem Lachen zum Schluß. Die Chilenin Cristina GALLARDO-DOMAS hat erfolgreich den Übergang in das jugendlich-dramatische Falcon-Fach gemeistert. Ihre wunderbar runde, perfekt ausgeglichene Stimme trägt mühelos im großen Ensemble des 3. Akts. Das “Prega per noi!” des Schlusses des “Ave Maria” war herzzerreißend.

Einen ausnehmend guten Eindruck machte der junge deutsche Tenor Jonas KAUFMANN, eine Überbesetzung für den Cassio – doch man wird sich darüber nicht beklagen. Bereits in der Trinkszene zeigte er den Schmelz seiner prachtvollen Stimme, die schon aus den lyrischen Tenorrollen entwachsen ist. Emilia war Nona JAVAKHIDZE, die der, meist schlecht besetzten, Rolle stimmlichen Ausdruck und szenische Präsenz gab. Sergio BERTOCCHI als Rodrigo wußte wohl, daß er natürlich nicht mit dem feschen Cassio mithalten könne. Als Lodovico überbrachte Giovanni Battista PARODI wohlklingend die Befehle aus Venedig. Christophe FEL (mit Bersaglieri-Tschako) war ein passender Montano, und Rodrigo GARCIA als Herold kündigte die venezianische Delegation an.

Das überraschenderweise nicht ganz volle Haus spendete stürmischen Beifall, mit einer Prise Nostalgie, wohl wissend, daß eine einzigartige Epoche der Geschichte der Pariser Oper zu Ende geht. wig.