"ANTIGONA"- 27. Juni 2004

Wenn ich Sie frage, ob Ihnen Tommaso Traetta (1727-1779) bekannt sei, werden Sie vermutlich die Frage verneinen. Der Komponist aus Bisonto (eine der acht romanischen Kathedralen um Bari) lernte sein Handwerk bei Porpora in Neapel, wo er auch seine ersten Erfolgen einheimste, gefolgt von Venedig. Deshalb wurde er 1758 an den Hof in Parma gerufen, wo die Bourbonen sich installiert hatten. Er adaptierte zuerst die dort sehr populären Rameau-Opern für den italienischen Geschmack. Bald begann er selbst Opern zu schreiben und die italienische Oper zu reformieren, die in der Tradition von Mayr, Porpora, Leo, Jomelli und Co. etwas verknöchert war. Er hatte damit derartigen Erfolg, daß man ihn nach Wien empfahl, wo er unter anderem Gluck kennen lernte, der ja ähnliche, aber nicht identische Ideen hatte. Die Freundschaft ging so weit, daß die beiden Logenbrüder in der selben Freimaurer-Loge waren und auch die selbe Mätresse hatten, die berühmte Caterina Gabrielli, die Traetta seinem Kollegen aber ausspannte und nach St. Petersburg entführte, wo sie 1772 die Titelrolle der Oper „Antigona“ sang.

Die Oper ist nicht nur deshalb interessant, weil sie im Auftrag von Katharina II. geschrieben wurde und praktisch ein politisches Propaganda-Werk ist, sondern weil es sich hörbar um ein Übergangswerk zwischen der italienischen Oper des Barocks und der Klassik handelt. Im Gegensatz zu den aufgefädelten da-capo Koloratur-Arien, mit bestenfalls einem oder zwei Duetten, wie bei Jomelli, Leo, Händel und dem jungen Mozart („Mitridate“ wurde 1770 in Mailand kreiert!), gibt es hier erstmals sehr dramatische Arien, die öfters in Duette, Ensembles, sogar mit Chor, überfließen. Traetta vernachlässigt die Melodie nie, denn alle Arien stammen direkt aus der neapolitanischen Oper.

Ähnlich wie bei Gluck haben die Chöre oft einen düsteren, mystischen Charakter; man denkt vor allem an „Alceste“. Der Schluß, der hier mit einem Happy end schließt, ist total verpatzt und ein ausgesprochener Nachteil des Werks. Nachdem Creonte sich bekehrt hat und Güte walten läßt, gibt er Antigona und Emone von der verhängten Todesstrafe frei und kündigt ihre Vermählung an. Man erwartet eine große Schlußszene mit Chor und allem Tralala, aber es passiert einfach nichts: die beiden Verurteilten stehen auf und verschwinden, während eine Sinfonia-Passacaglia die Oper beendet. Eine dramatisches Fiasko!

Diese Aufführung fand ebenfalls im Rahmen des „Festival des Régions“ statt, denn wie viele der sehr guten französischen Barockensembles, haben sich LES TALENS LYRIQUES (ohne „t“, Untertitel der Rameau-Oper „Les Fêtes d’Hébé“) und ihr Chef Christophe ROUSSET einen regionalen Schutzherrn gesucht und in der Region Langedoc und der Stadt Montpellier gefunden. Les Talens Lyriques haben sich um die Wiederbelebung der Opern des 18. Jahrhunderts verdient gemacht und einige der besten Sänger für dieses Unternehmen mobilisieren können. Christophe Rousset ist ursprünglich Cembalist und Musikologe und entledigt sich mit großer Begeisterung, hörbarer Kompetenz und durchschlagendem Erfolg seiner Aufgabe. Er weiß seinen Elan enthusiastisch den Sängern und dem Chor LES ÉLÉMENTS mitzuteilen (von Joël SUHUBIETTE geleitet, einem ausgezeichneten Dirigenten, der sich vor allem in zeitgenössischen Opern verdient gemacht hat).

Dank einer Absage gab es eine Überraschung bei den Sängern: Maria Bayo war in der Titelrolle angekündigt, die im März die Serie in Montpellier gesungen hatte. Sie sang auch hochschwanger alle Proben und die Pariser Generalprobe am 20. Juni, aber für die Premiere am 22. war sie in der Klinik. Die junge Raffaella MILANESI war als Zweitbesetzung vorgesehen und wirklich keine Enttäuschung. Sie besitzt einen sehr schönen, runden, gut geführten lyrischen Sopran, der auch die bisweilen sehr anstrengenden Koloraturen perfekt meistert. Sie spielt überzeugend, trotz der geringen Beachtung, die ihr der Regisseur zuteil werden ließ. Ein Namen, den man sicher oft wieder hören wird. An ihrer Seite lieh Marina COMPARATO ihren wohlklingenden Mezzo der Schwester Ismene.

Kobie van RENSBURG als wilder, tyrannischer Creonte meisterte die halsbrecherischen Koloratur-Arien fulminant. Seinen Sohn Emone (und Liebhaber Antigonas) sang Laura POVERELLI, eine Spezialistin dieses Repertoires. Nicht nur musikalische Substanz gab sie der Hosenrolle, sondern auch einen darstellerisch überzeugenden Charakter. In der kleineren Rolle des Adrasto, dem Vertrauten der einigermaßen überspannten Familie (Ödipus und Jokaste als Eltern zu haben, ist ja nicht jedem gegeben), war John MCVEIGH ausgezeichnet, einschließlich in der Koloratur-Arie des 2. Akts.

Nicht auf der Bühne, sondern auf einer Art Laufsteg, zwischen Orchester und Parkett gebaut, bringen sich die Zwillingsbrüder Eteocles und Polynike (Grégoire und Sébastein CAMUZET, offensichtlich auch Zwillinge) bereits in der 1. Szene um. Sie geistern aber während der ganzen Vorstellung als Schatten herum oder sitzen auf dem Laufsteg. Das aber ist ein anderes Kapitel: die Regie und Inszenierung. Ein durchgehend schwarz-weißer surrealistischer Einheitsdekor ist irgendwo zwischen Cocteau, Dali und Braque angesiedelt und wurde vom ATELIER M/M in Paris gebaut (M/M steht für Michaël AMZALAG und Mathias AUGUSTYNIAK). Die beiden Grafiker arbeiten hauptsächlich in der Modebranche und mit Photographen. Es werden alle möglichen (und unmöglichen) Versatzstücke gebracht und herum geschoben: stilisierte Bäume aus schwarzem Eisen, ebenso bizarr geformte „Werkzeuge“, sowie Buchstaben-Felsblöcke aus Karton, die T H E B E S ergeben.

In diesem Sinn sind auch die Kostüme von Paul QUENSON, der neben Opernkostümen auch Schmuck und Mode-Accessoires als Designer produziert. Antigone trägt ein langes schwarzes Abendkleid, Ismene ein kurzes weißes Cocktail-Kleid, beide rückenfrei. Die Kluften der anderen Solisten sind auch in diesen „Farben“ gekleidet. Die sechs Diener Creontes sind in schwarz-weißen Anoraks und Skihosen, der Chor in ähnlich karierten Hemden, Jacken und Hosen. All das ist recht günstig von Marie-Christine SOMA ausgeleuchtet.

In diesem bewußt surrealistischem Bühnenbild versucht der Regisseur Eric VIGNER Sänger und Chor zu führen. Der Chor ist „auf Griechisch“ in Marschformation aufgestellt und macht meistens nur Turnübungen. Die Sänger hatten meist genügend Bühnenerfahrung, um sich leidlich aus der Situation zu ziehen. Nur die Titelheldin hätte man am Schluß auf eine weniger banale Art von ihrem Platz auf dem Laufsteg abgehen lassen können.

Trotz dieser Beschränkungen war der Beifall für die Künstler stürmisch, besonders für Raffaella Milanesi, die junge Einspringerin aus Rom. wig.