"PETER GRIMES"- 28. Januar 2004

Als der Pazifist und Militärdienst-Verweigerer Benjamin Britten seine erste Oper am 7. Juni 1945 im Londoner Saddler‘s Wells Theatre zur Uraufführung brachte, wurde er über Nacht weltberühmt. Die Aufführung verlief jedoch fast so grimmig wie der Inhalt der Oper, denn Orchester und Sänger waren bis zur Premiere bei weitem nicht vom Wert des Werkes überzeugt.

Das Libretto von Montagu Slater, nach dem Gedichtepos „The Borough“ von George Crabbe, bietet ein ungewöhnliches Szenario eines bornierten Sonderlings, der sich an der eben solchen Borniertheit der Bewohner eines kleinen Fischerdorfs in Brittens Heimat Suffolk, an der Ostküste Englands, reibt und daran zugrunde geht. Zu allem Überfluß ist die Homosexualität des Komponisten – hier an der Grenze von Sadismus und Päderastie - kaum verschleiert eingewoben. Die Musik war auch nicht „the cup of tea“ des damaligen englischen Publikums, das andere Kost gewohnt war. Daß „Peter Grimes“ doch ein großer Erfolg wurde, ist fast ein Wunder. Auch in „Wozzeck“ geht ein Einzelgänger an der Begrenztheit seiner Umgebung zugrunde. Die unausgesprochenen Gedanken werden in den Orchesterzwischenspielen ausgedrückt. Eben diese Zwischenspiele drängen den Vergleich mit „Wozzeck“ auf (der damals so gut wie unbekannt war, die „Wiederentdeckung“ fand erst 1951 in Salzburg statt). Man muß auch sonst oft an Bartok und Berg denken. Der Chor ist, wie immer bei Britten, sehr viel eingesetzt, wird ganz besonders behandelt und bietet daher sehr eindrucksvolle Massenszenen.

Die Pariser Aufführung in der Inszenierung von Graham VICK von 2001 wurde von Alejandro STADLER wieder einstudiert. Die Regie versucht – im Großen und Ganzen erfolgreich – in dem einfachen, aber überladenen und unklaren Bühnenbild von Paul BROWN (der auch für die bewußt banalen Kostüme zeichnete) die Sänger und den ausgezeichneten Chor (Chormeister Peter BURIAN) durch all den Ramsch zu führen, die oft schwer den Weg finden. Eine quer gestellte Plastikwand dient als Fenster der Schule oder als Trennwand für Wäscherinnen. Es ist völlig vertretbar, die Handlung in die Jetztzeit zu versetzen, denn Gemeinheit und üble Nachrede sind ja kaum zeitgebunden. Zeitgemäß sind Autos auf der Bühne, der Advokat Swallow fährt einen großen Ford, die Lehrerin Ellen Orford nur einen kleinen Polo, die Jugend flotte Motorräder, Grimes wohnt in einem schäbigen Wohnwagen, Hobson chauffiert den Tiefkühllaster der Fischkonservenfabrik (der am Schluß auch als Aunties Bar dient). Dabei besteht eine sehr gute Beleuchtung von Matthew RICHARDSON.

Von den drei Hauptdarstellern ist in erster Linie Anthony Dean GRIFFEY in der Titelrolle (für Peter Pears geschrieben) zu nennen, der die sehr anstrengende Partie hinreißend sang. Der intelligente Sänger ist ein Spezialist für zeitgenössische Musik; er zeigte große Musikalität und sehr eindrucksvolles Spiel. Sein großer Monolog „Now the Great Bear and Pleiades“ war erschütternd, ebenso wie sein letzter Auftritt, wo die Meute der Dorfbewohner hinter der Szene „Peter Grimes!“ plärrt, um ihn zu lynchen. Die unmögliche Liebe der Lehrerin Ellen Orford zu Grimes brachte Brigitte HAHN sehr intensiv zur Geltung. Zwischen Frust und Mitleid ist sie sich der Aussichtslosigkeit ihres Engagements bewußt, läßt sich aber nicht von der Verzweiflung überwältigen.

Peter SIDHOM lieh seinen warmen Bariton dem Captain Balstrode, dem einzigen Mann im Dorf, der zu Grimes hält, und gab ihm das richtige Profil und die menschliche Wärme des alten Seebären, der viel gesehen hat. Zum Schluß zieht er die Konsequenz und rät Grimes den Selbstmord „… and sink the boat!“. Claire POWELL als Auntie führte mit fester Hand und guter Stimme das Lokal „Zum wilden Eber“, halb Kneipe, halb Bordell. Die beiden kurz gekleideten „Nichten“, Carolyn SAMPSON und Valérie CONDOLUCI, belebten diese Kaschemme passend. Ian CALEY sang und spielte mit der nötigen Hypokrisie den ständig predigenden Methodisten Bob Boles, der aber dann betrunken eine der Nichten auf einer Bank vergewaltigen will („I want her!“).

Ebenso ist der Anwalt Swallow den fleischlichen Gelüsten mit beiden Nichten nicht abhold, von Michael DRUIETT am Schluß sehr expressiv (auf der Kühlerhaube) dargestellt. Della JONES war als Laudanum-süchtige Mrs. (Nabob) Sedley, die nur schnüffelt und ihre Mitbürger vernadert („Murder is my passion!“), absolut perfekt. Neil JENKINS als Dorfpfarrer Horace Adams war pompös würdig. Den jungen Ned Keene, den Schönling des Dorfes, spielte Jason HOWARD sehr passend, ebenso wie Lynton BLACK dem Hobson die rauhen Manieren des Lastfahrers gab. In den kleineren Rollen waren Christian NEDJEL, Pascal MESLE, Ghislaine ROUX zu hören. Der junge Constantin JOPECK spielte sehr passend den verschreckten Lehrling auf Grimes‘ Schiff.

Roderick BRYDON leitete mit Umsicht und sichtlicher Liebe die, dank der zahlreichen, bei keinem Orchester beliebten, Tempowechsel, ausgesprochen schwierige Partitur. Das ORCHESTER DER OPÉRA zog sich mit Panache aus der Affäre.

Das selten gespielte Werk Brittens fand ein begeistertes Publikum. Wig.