"KRIEG UND FRIEDEN" - 3. April 2005

Bei manchen Opern fragt man sich, ob man sie nicht lieber in zwei Abenden spielen soll, was übrigens oft bei der Uraufführung stattfand. Wie Berlioz‘ „Les Troyens“, gehört Prokofievs patriotische Freske dazu, in die eine dramatische Liebesgeschichte eingeflochten ist. Auch einige der fünfaktigen „Grand Opéras“ Meyerbeers oder Halévys könnten in diese Kategorie gehören. Wagner hat beim „Ring“ die Aufteilung von Anfang an vorgesehen. Daß die beiden Teile von „Krieg und Frieden“ von je über hundert Minuten durch eine überlange Pause von 45 (!) Minuten getrennt wurden, hilft der Popularität des Werk mit 72 (!) Rollen wohl kaum. Trotzdem lief diese nun 3. Serie von „Krieg und Frieden“ vor praktisch vollem Haus ab.

Für den anhaltenden Erfolg dieses schweren Werks ist natürlich die wohl sensationellste Inszenierung der Bastille-Oper verantwortlich. Die Arbeit des Szene-Teams ist ein perfektes Beispiel, wie man einen „historischen Schinken“ inszenieren und einem breiten Publikum schmackhaft machen kann. Diese Team-Arbeit beruht auf der präzisen Führung einer Armee von Personen durch Francesca ZAMBELLO, gepaart mit der vollen Verwendung der ungeheuren Maschinerie der Bastille-Oper durch John MACFARLANE, die stilvollen Kostümen von Nicky GILLIBRAND, sowie die ausgezeichnete Beleuchtung von Dominique BRUGUIÈRE und die schöne Choreographie von Dennis SAYERS.

Dabei ist ja Prokofievs Partitur wahrlich keine „leichte Unterhaltungsmusik“. Obwohl der 1. Teil (Der Frieden) sehr dem typischen Stil der russischen Romantik des 19. Jahrhunderts huldigt, überschreitet Prokofiev hier die Grenzen. Die Rolle des Fürsten Andrej Bolkonski erinnert natürlich an Eugen Onegin, ist aber psychologisch viel mehr ausgefeilt. Ebenso könnte die junge, viel umworbene Natascha Rostova eine Cousine Tatianas sein. Die orchestrale Ausarbeitung, immer an der Grenze der klassisch-romantischen Tonalität (weshalb die berüchtigte Jdanow-Kommission die Oper zuerst mehrmals wegen „Bourgeoisen Formalismus“ verbot), ist eben Prokofiev und nicht Tschaikowsky oder Borodin oder Rimsky-Korsakov (dessen Schüler Prokofiev war).

Die oftmalige Zusammenarbeit für Filme mit Sergei Eisenstein ist im 2. Teil (Der Krieg) offenbar. Es ist kein Zufall, daß bei der Arbeit am Libretto aus Tolstois Riesenroman Eisenstein mitgearbeitet hat. Natürlich muß man an „Alexander Nevsky“ oder „Leutnant Kije“ denken, nur um festzustellen, daß Prokofiev ein Hundert-Mann-Orchester in den Graben und einen ebensolches Chor auf die Bühne stellen kann und – trotz des patriotischen Pathos – nie kitschig wird. Man entdeckt erst bei mehrfachem Hören die tiefgehenden Details der zyklopischen Partitur. Dabei bringt Prokofiev es zustande, bei diesem Riesenaufwand Szenen einzuflechten, wo die schreckliche menschliche Tragik des Krieges aufscheint, wie die erschütternde Szene zwischen dem Beisteher Fürst Piotr Bezukhov, dem Pazifisten und Freimaurer, der von den Franzosen fast standrechtlich erschossen wird, und dem anderen Beisteher Platon Karatiev. Eine DVD der Premierenserie ist eben erschienen und wirklich empfehlenswert.

Diese Aufführungsserie dirigierte Vladimir JUROWSKI großartig und mit jugendlichem Enthusiasmus. Als Russe arbeitete er natürlich musikalisch die russische Seite mehr als seine Vorgänger am Pult heraus. Peter BURIAN hatte die großartigen Chöre neu einstudiert und wurde am Schluß mit seiner Truppe mit Recht gefeiert.

Bo SKOVHUS debütierte in der Rolle des Prinzen Andrej. Seine außergewöhnliche Bühnenpräsenz gab diesem Idealisten das perfekte Profil, gepaart mit seiner stimmlich überragenden Leistung. Natascha Rostova war wie in der Premierenserie Olga GURYAKOVA. Sie gab der Rolle des beschützten jungen Mädchens, das sich in das Abenteuer mit dem leichtlebigen Fürsten Anatol Kuragin stürzt und daran fast zerbricht, die ideale Bühnenfigur, die strahlende Stimme und tiefgehende Darstellung. Wenn sie den sterbenden Prinzen Andrej auf dem Schlachtfeld vor Moskau wieder findet, ist ein erschütternder Augenblick. Dem Anatol lieh Vsevolod GRIVNOV das nötige Maß an Niederträchtigkeit und Habgier.

Der deutsche Tenor Michael KÖNIG war ein sensationeller Einspringer als Piotr Bezukhov. Er sang nicht nur absolut phänomenal die sehr exponierte Rolle, sondern spielte auch mit unglaublicher Intensität den gepeinigten Menschen. Obwohl er nicht die vorteilhafte Statur von Skovhus besitzt, ist er ein ausgezeichneter Sänger und Schauspieler. Man kann dem jungen Tenor eine große Karriere voraussagen. Von den beiden Klatschtanten ist vor allem Felicity PALMER zu nennen, die der Gräfin Akhrossimova in der Szene mit Natascha tragische Akzente gab. Als die zweite im Bunde war Irina BOGATCHEVA als Mme. Peronskaïa sehr treffend.

Nicht zu übersehen war auch Elena ZAREMBA in umwerfendem Abendkleid, die ihren prachtvollen Mezzo der Helena Bezukhova, Piotrs leichtlebiger und intrigierender Gattin, lieh. Andrejs Schwester, Fürstin Maria war bei Susana PORETSKY gut aufgehoben. Sein Vater, der misanthropische Fürst Nikolai, war der riesige Gleb NIKOLSKY (er ist sicher zwei Meter groß), mit tief schwarzem Baß.

Im 2. Teil stach Vladimir OGNOVENKO als Marschall Koutouzov, Sieger der Schlacht von Borodino, hervor, der dem alten Haudegen seine imponierende Statur und seinen prachtvollen Baß lieh. Vassili GERELLO war ein etwas blasser Napoleon, der den heldenhaften Widerstand der Moskowiten bewunderte. Von den etwa dreißig weiteren Sängern (die fast alle mehrere Rollen darstellten) seien zwei hervorgehoben: als Platon Karataïev wußte Nikolai GASSIEV die Unmenschlichkeit des Kriegs diskret und ohne Übertreibung zu vermitteln, während Vladimir MATORIN im Gegenteil den Kutscher Balaga und zwei weitere Rollen wodkatrinkend erfolgreich mit Stentor-Baß über die Runden brachte. Es ist unmöglich allen anderen, durchwegs guten, Sänger einzeln zu danken.

Beim Schlußvorhang ist die – wirklich nicht kleine - Bühne der Bastille-Oper rammelvoll. Großer Erfolg und tobender Applaus des begeisterten Publikums. wig.