"AUS EINEM TOTENHAUS" - 6. Juni 2005

Das von Janacek frei adaptierte Textbuch nach „Aufzeichnugen aus einem Totenhaus“, Dostojewskijs autobiographischem Roman seiner Erinnerungen der Festungshaft in Tomsk, ist eher ein szenisches Oratorium als eine Oper. Es entspricht Janaceks pantheistischer Geistigkeit, seinem Glauben an die Menschheit, seiner Idealisierung der Freiheit. Wie Dostojewskij versucht er keineswegs, die Häftlinge, die Opfer der Gewalt des Gulags und ihre Taten zu idealisieren, die ganze „Handlung“ ist überraschend distanziert, eine Freske des menschlichen Unglücks, fast eine Reportage.

Janaceks letzte Oper ist unmittelbar nach der „Sinfonietta“ und der „Glagolitischen Messe“ geschrieben, alle aus den Jahren 1926 bis 1928, bis kurz vor seinem Tode. Die kräftigen Chorale der Bläserfanfaren sind allen drei Werken gemeinsam, die unmittelbar darauf von kurzen, öfters wiederholten Motiven mit Streichern und Holzbläsern in den unverkennbaren Janacek-Klang überleiten. Dieses subtile Gleichgewicht nützt der mährische Komponist, um der so gut wie nicht existierenden Handlung eine ungewöhnliche Dichte und Dramatik zu geben. Denn der Alltag eines russischen Straflagers beschränkt sich auf neue Gefangene, Verprügelung der Insassen und eine Pantomime „Don Juan und Kedril“ (man muß an Ullmanns „Kaiser von Atlantis“ denken, im KZ Theresienstadt geschrieben). Daher nur Vignetten, etwas längere Erzählungen einzelner Häftlinge, weshalb sie in dieses unmenschliche Lager geraten sind, abwechselnd mit Keilereien zwischen den Gefangenen.

Unter der Häftlingsschar stechen Skuratov, Chapkin, Chichkov und Filka Morosov, die ihre Geschichten erzählen, heraus. Der Schuster Skuratov hatte seine Verlobte Louisa und seinen Nebenbuhler ermordet. Er ist nahe dem Wahnsinn. Chapkin war ein Landstreicher und erzählt, weshalb er abstehende Ohren hat, weil er von einem sadistischen Kommissar so lange an den Ohren gezogen wurde, bis er einen nicht begangenen Einbruch zugab. Chichkov erzählt Tschevernin, wie es kam, daß er Akulka, die Tochter eines reichen Bauern geheiratet hatte. Eine komplizierte Liebesgeschichte mit einem gewissen Filka Morosov, der sie angeblichen entehrt hatte, führte Chichkov dazu, Akulka zu ermorden, aber er will sich an Filka rächen. Es stellt sich heraus, daß der neben ihm im Sterben liegende Luka Kouzmich eben dieser Filka ist. Und hier sagt der älteste Gefangene die erschütternden Worte: „Auch er hatte eine Mutter.“ Der von den Gefangenen gequälte verletzte Adler, der „Zar der Wälder“, der am Ende wie Goriantschikov die Freiheit findet, ist eine Parabel auf diese Freiheit, Janaceks lebenslanges Ideal.

Im Gegensatz zu der Erstaufführung 1988 in Paris unter Charles Mackeras, in einer sehr bedrückenden Inszenierung von Volker Schloendorff mit stockfinsterem Dekor von Jenifer Bartlett, streicht diese Neuinszenierung von Klaus Michael GRÜBER die idealistische Seite des Werks heraus. Die Idee, die Bühnenbilder einem Maler, Eduardo ARROYO, anzuvertrauen, war riskant, ist aber durchaus gelungen: die Szene des 1. Akts und die kurze Schlußszene zeigt einen Platz mit einem riesigen Baum vor der großen Gefängnismauer (gespickt mit Glasscherben) als eine Art Agora der Häftlinge, Ein zerlegtes Schiff und eine Jurte dominieren den 2. Akt. Der 3. Akt spielt in einer Taiga-Landschaft. Die Kostüme von Eva DESSECKER waren einfach und passend, beige Kleidung für die Sträflinge, die Wachen in blauer Uniform, Goriantschikov kommt in Gehrock und hoher Pelzmütze an. Die überaus passende Beleuchtung von Vinicio CHELI gab der beklemmenden Atmosphäre ein bisweilen grelles Licht, wie ein „Funken Gottes“ (Janacek).

Unter den mehr als zwanzig Solisten stechen nur einige wenige individuell hervor, und für die meisten war es ein Rollendebüt. In erster Linie José VAN DAM als Alexander Petrowitsch Goriantschikov, der politische Häftling, der zum Empfang einmal vom brutalen, ständig betrunkenen Lagerkommandanten (Jiri SULZENKO) zu hundert Peitschenhieben verdonnert wird. Diesem Intellektuellen und Gutmenschen schlechthin gibt der belgische Bariton Würde und Menschlichkeit, vor allem wenn er dem jungen Tartaren-Jungen Alieia Lesen und Schreiben beibringt und sich dann, nach dessen Verletzung durch einen Häftling, um ihn kümmert. Gesanglich nicht übermäßig anspruchsvoll, lieh van Dam seinen kultivierten Bariton um die tiefe Menschlichkeit der Rolle zu unterstreichen.

Gaëlle LE ROI war der junge Aliea, anhänglich naiv und dankbar. Jerry HADLEY erzählte mit seinem ausdrucksvollen Tenor Skuratovs erschütternde Geschichte. Jeffrey FRANCIS gab Chapkins Unglück mit pathetischer Resignation zur Gehör. Johan REUTER als Chichkov informierte Tomás JUHÁS (Tcherevin) von seiner Tragik, während Hubert DELEMBOYE den strebenden Louka/Filka glaubhaft darstellte. Alle diese und viele weitere Sänger sangen und stellten diese Ansammlung von menschlichem Leiden, Resignation und Hoffnungslosigkeit mit intensiver Ausdruckkraft auf die Bühne.

Marc ALBRECHT hat sich bereits vor drei Jahren mit Martinus „Juliette“ in Paris vorgestellt. Der damalige sehr gute Eindruck wurde diesmal durch die fein durchdachte und ziselierte Leitung der Musik Janaceks bestärkt. Das ORCHESTER DER PARISER OPER war hörbar auf der selben Wellenlänge wie der deutsche Dirigent und bot den typischen Janacek-Klang. Dieser sehr erfreuliche musikalische Rahmen wurde durch den immer eindrucksvolleren CHOR DER PARISER OPER unter Peter BURIAN noch verstärkt, der die neunzig Minuten lang ununterbrochen auf der Bühne ist und singt. Eine sehr schöne und würdige Aufführung dieses nur selten gespielten, sehr intensiven Werks. wig.