"BORIS GODUNOW" - 10. Mai 2005

„Boris Godunow“ ist eine komplexe Oper, nicht nur, weil die Musik nicht einfach ist, und die Hauptrollen erstklassige Sänger/Schauspieler bedürfen, sondern weil man bei einer Neueinstudierung nie genau weiß , was auf einen zukommen wird. Welche Fassung wird man diesmal spielen? Nachdem man Jahrzehnte verschiedene Versionen von Rimsky-Korsakov zu hören bekam (bisweilen mit Zusätzen von Ippolitov-Iwanow), gefolgt von der Schostakowitsch- Fassung, scheint sich die in der Bastille gegebene Fassung 2b langsam als die Referenz durchzusetzen. In dieser Fassung 2b handelt es sich um die endgültige Originalfassung Mussorgskys von 1872 (in neun Szenen) plus des 6. Bilds der 1. Version von 1868 zwischen Boris und dem Blödsinnigen vor der Basiliuskirche (als 8. Szene eingeschoben). Diese Version (in zehn Bildern) war hier bereits 1988 in der Inszenierung von Yannis Kokkos zu sehen gewesen. In der nächsten Saison wird Gergiev mit dem Mariinsky die 1. Version von 1868, die „Urfassung“ des „Boris“ im Châtelet spielen.

Für diese Inszenierung zeichnete wieder Francesca ZAMBELLO, Spezialistin für spektakuläre Massenszenen. Die Idee, den Blödsinnigen (Narren) zum „Gewissen“ Boris‘ zu machen, einer ständig auf der Bühne herumgeisternden Zentralfigur, ist sehr gut, zumal die gesanglich relativ kleine Rolle mit dem hervorragenden Vsevolod GRIVNOV besetzt war, der die Tragik des Volkspropheten und Sehers greifbar auf der Bühne darstellte.

Für Bühnenbilder und Kostüme war Wolfgang GUSSMANN verantwortlich. Die Wiederkehr der Riesenstiege – älteren Lesern als Zentralstück vieler Inszenierungen vor dreißig Jahren noch in Erinnerung – ist hier allerdings fehl am Platz, trotz eines großen Rahmens von Ikonen und eines gleichen Vorhangs, der bisweilen das Monstrum etwas verdeckt. Die Waldszene von Kromy am Schluß der Oper auf der geteilten Stiege zu spielen, bedarf einiger Phantasie. Dafür waren die prächtigen Kostüme der Zarenfamilie, des Moskauer Metropolitenkapitels und der Bojaren in großen roten Mänteln ein Augenschmaus. Sehr gelungen war die Szene in Boris‘ Appartement mit schönen Bildern. Die Landkarte Rußlands war auf einem Dutzend einen Meter hohen Würfeln aufgeklebt, und Feodor bemühte sich mit der Amme, die Würfel zu einer Landkarte zusammen zu setzen. Im Polenakt mit Polonaise und Gelage war zwar keine Stiege, dafür herrschte ägyptische Finsternis, und in der Mitte hing ein riesiges weißes Kreuz schräg vom Schnürboden. Die ebenso pechschwarzen Kostüme Marinas und ihres Hofs, sowie Rangonis und Grigoris halfen wenig eine „Festatmosphäre“ aufkommen zu lassen.

Alexander VEDERNIKOV – derzeit künstlerischer Leiter des Moskauer Bolschoi Theaters – gab ein recht enttäuschendes, routiniertes Dirigat. Die Impulse des musikalischen Geschehens kamen von Chor und Solisten und nicht vom Dirigenten, der sich meistens auf die Begleitung beschränkte. Anscheinend hat Vedernikov für sein Pariser Debüt noch nicht den richtigen Kontakt mit dem ORCHESTER gefunden, denn es gab auch einige Wackelstellen zwischen Graben und Bühne. Selbst der Polenakt war nicht überzeugend.

Große Sieger war daher natürlich der fabelhafte CHOR, von Peter BURIAN brillant einstudiert, der ungemein differenziert sowohl die Volksszenen und recht rauhen Sitzungen der Bojaren nicht nur prachtvoll sang, sondern diese, sowie die Revolte im Wald von Kromy auch handgreiflich darstellte. Frau Zambello hat sich hier wieder einmal als Meisterin der Personenführung von Massenszenen gezeigt.

Als Boris stand Samuel RAMEY auf der Bühne. Das Timbre seiner Stimme wird immer dunkler und ist nach wie vor von unverminderter Ausdruckskraft. Ein Boris, der Bojaren, Höflingen und Kulaken das Fürchten lehrt. In den Halluzinations-Szenen und bei seinen Sturz vom Thron hält das Publikum den Atem an und es läuft einem kalt über den Rücken. Magistral!

Neben einem solchen szenischen Titanen haben es die anderen Sänger nicht leicht. Vladimir VANEEV als Mönch Pimen konnte noch am besten konkurrieren (er sang die Titelrolle in den drei letzten Vorstellungen der Serie). Ein riesiger, schwarzer Baß, mit dunklen Höhen und nahe der Zwei-Meter-Latte, bringt er selbst den völlig abwesenden Boris mit seiner Erzählung des „Wunders von Uglitsch“ aus der Fassung.

Beider Gegenspieler, den falschen Dimitri, sang der junge Roman MURAVITSKII, der zwar jugendlichen Schwung für die Rolle einbrachte, aber weder die stimmliche Kraft, noch die darstellerische Reife für den Hochstapler und Usurpator besaß. Elena MANISTINA lieh ihren wunderbar geführten Alt, der auch die Höhen blendend meistert, der ehrgeizigen Marina Mnischek. Da sie nicht die perfekte Bühnenfigur besitzt, war das pechschwarze Kleid mit violetten Rüschen kein Vorteil.

Ebenso schwarz mit roter Kardinalsstola und Barett war der zynische Rangoni des ausgezeichneten Vladimir OGNOVENKO, der den autoritären, intrigierenden Jesuiten mit Autorität darstellte, ohne schmierig zu werden. Dafür gab Nikolai GASSIEV dem Fürsten Schuisky die nötige Mischung von hinterhältiger Schmeichelei und kalter Brutalität, bis zum Mord Feodors nach Boris‘ Tod auf offener Szene.

Von den beiden frommen Saufbrüdern sang Mikail PETRENKO das Kazan-Lied des Warlaam mit Schwung und kraftvollem Baß. Alexander PODBOLOTOV begnügte sich als sein Kumpan Missail, ihn beim Saufen zu helfen. Das Entenlied der Gastwirtin von Elena BOCHAROVA war sehr treffend gesungen.

Als einzige Französin war Gaële LE ROI ein sehr glaubhafter Zarewitsch Feodor, und Alexandra ZAMOJSKA gab der Xenia die nötige Traurigkeit, die Irina BOGATCHEVA als Amme zu trösten versuchte. Von den vielen, durchwegs guten Comprimarii sei Sergei MURZAEV als Schtschelkalow genannt, der dem Duma-Sekretär die bürokratische Autorität gab.

Und natürlich Vsevolod Grivnov als Blödsinniger, der fast dauernd auf der Bühne ist und zum Schluß mit verzweifelter Hellsicht und aufwühlender Intensität die Leiden Rußlands voraussieht. Erschütternd! wig.