"IL VIAGGIO A REIMS" - 16. Dezember 2005

Gastspiel des Mariinsky Theaters, Sankt Petersburg

Diese zweistündige, einaktige "Farsa" Rossinis ist in vieler Hinsicht eine Kuriosität. In der hauchdünnen "Handlung" treffen sich einige etwas überspannte, recht lächerliche Personen zufällig im Hotel "Zur goldenen Lilie" im Luftkurort Plombières in den Vogesen, um zur Krönung des Karl X. (am 28. Mai 1825) zu reisen. Einige banale Zwischenfälle (Radbruch, keine Ersatzpferde), und der König und die Krönung sind vergessen! Die Zeit der nicht vorhandenen Intrige wird mit galanten Spielen und mondänen Plaudereien gefüllt, und es gibt keine Hauptperson, denn alle sind gleich uninteressant und unwichtig. Bis zur Apotheose, in der Baron Trombonok zur allgemeinen Versöhnung aufruft und die Anwesenden zum Absingen ihrer Hymnen anleitet. Interessanter weise ist es die deutsche Hymne auf die Haydn-Melodie, die den friedvollsten, versöhnlichsten und richtig paneuropäischen Text hat: "Or che regna fra le genti/La più placida armonia,/Dell'Europa sempre fia/Il destin felice appien./Viva, viva l'armonia/Ch'è sorgente d'ogni ben."

Rossini hinderte die Leere des Librettos nicht, unglaublich brillante Rollen zu komponieren, so daß Stendahl schrieb "Diese Oper ist ein Fest!" nach der Premiere der Oper. "Viaggio a Reims", wurde drei Wochen nach der Krönung in Reims von Karl X. im Théâtre Italien in Paris uraufgeführt. Rossini leistete sich noch den Luxus, diesen vierzehn "Nebenrollen" ein Pezzo concertato a 14 voci zu schreiben, das a capella zu singen ist! Rossini hat Libretto und Musik dieser Gelegenheitsarbeit mehrfach wieder verwendet, u. a. im "Comte d'Ory" und 1854 in einer Adaptierung "Il Viaggio a Vienna" für die Hochzeit von Kaiser Franz-Joseph!

Die Koproduktion zwischen dem Théâtre du Châtelet und dem Mariinsky Theater wurde in einer Feuerwerks-Inszenierung voll amüsanter Gags von Alain MARATRAT gebracht. Das einfache Bühnenbild von Pierre Alain BERTOLA ist ein riesiges Zirkuszelt auf der Bühne und verlängert sich in Laufstegen über Orchestergraben und bis in die 10. Reihe des Parketts. Daher wurde das Orchester auf die Hinterbühne verlegt, und Valery GERGIEV dirigierte im Hintergrund.

Alle Sänger trugen phantastische Kostüme von Mireille DESSIGNY, der Farce Rossinis entsprechend und kamen durch den Zuschauerraum auf die Bühne, die Streicher und Maestro Gergiev inklusive. Nur der Russe Libenkopf kam auf einem Pferd als einziger aus den Kulissen. Alle weiteren Sänger machten ihren Auftritt im Parkett, bzw. auf den Rängen. Die römische Dichterin Corinna rauschte in einem gigantischen, von innen beleuchteten Federkleid mit eben solcher Perücke ein. Pascal MÉRAT beleuchtete den ganzen Trubel sehr passend.

Das Mariinsky Theater leistete sich den Luxus für die sechs Vorstellungen zwei Besetzungen aufzubieten. Alle Sänger kommen aus der "Akademie der jungen Sänger", die Larissa GERGIEVA, die Schwester des Chefs, leitet. Daß das Ganze spielerisch ablief, läßt auf dementsprechendes Studium und Probenintensität schließen. Und das taten die jungen Talente eigentlich ohne Dirigenten, der hinter ihnen stand.

Unter diesen unbekannten Sängern werden viele demnächst die großen Bühnen der Welt bevölkern. Als Corinna sang Irma GUIGOLACHVILI ihre große Improvisation mit Harfenbegleitung nach ihrem spektakulären Auftritt mit eindrucksvollem Mezzo. Als Comtessa de Folleville, das blonde französische "fashion victim", wurde von Larissa YOUDINA brillant dargestellt, nachdem sie in Ohnmacht gefallen war, weil ihre Hüte beim Unfall der Kutsche verkommen waren. Doch sie erholte sich sofort als eine riesige Hutschachtel gebracht wurde, aus der sie ein winziges Hütchen - eigentlich nur eine Krempe - herausholte. Sie sang die fulminanten Koloraturen hinreißend, doch ist ihre Stimme noch etwas rauh und bedarf eines Schliffs.

Der Polin, Marchesa Melibea, gab Anna KIKNADZE das richtige Profil, etwas Traurigkeit und Sentimentalität, besonders im Duett mit ihrem spanischen Hidalgo Don Alvaro, dem fulguranten Alexeï SAFIOULINE, mit dem fechtend sie ihren Auftritt macht! Die Gastwirtin Madama Cortese, aus unerfindlichen Gründen eine Tirolerin, war bei Anastasia BELYAEVA in besten Händen. In knallrotem zweiteiligem Kostüme sang sie ihre Bravourarie "Di vaghi raggi adorno" vom Balkon, mit der sie das Hotelpersonal zusammenpfeift. Sie zeigte dezentes, kluges Spiel und besitzt eine charmante Stimme.

Dmitri VOROPAEV gab dem Cavaliere Belfiore die nötige Mischung aus Erhabenheit und Spott. Daniil SHTODA, der schon als Lenski vor drei Jahren hier guten Eindruck gemacht hatte, plagte sich mit der sehr exponierten Rolle des Russen Libenskof zwar etwas, doch er zog sich recht gut aus der Affäre. Die passende Zurückhaltung gab Edouard TSANGA dem schüchternen englischen Lord Sidney. Er sang gut "das einzige Lied, das er kann", natürlich "God save the King!"

Nikolaï KAMENSKI gab dem Antiquitätensammler Don Profondo das richtige skurrile Profil. Der ausgezeichnete Vladimir OUSSPENSKI war der deutsche Baron Trombonok, der alles organisierte, einschließlich der Hymnen-Olympiade und der Schluß-Apotheose und -Huldigung an Karl X. "Viva il Re!" (Man soll nicht vergessen, daß Karl X. sechs Jahre später von der Revolte im Juli 1831 verjagt wurde.) Der Hausarzt Don Prudenzio kletterte aus einer Kiste heraus, und alle machten sich über ihn lustig. Alexeï TANNOVISTSKI mit Stethoskop gab ihm die nötige Würde.

Don Luigino, der Koch der überspannten Französin war Andreï ILLIOUCHNIKOV, Maddalena, die Verwalterin der "goldenen Lilie", die drollige Elena SOMMER, als Modestina, das faule Stubenmädchen des Hotels, das alle suchen und dann am Balkon schlafend gefunden wird, spielte Olga KITCHENKO blendend, ebenso wie Pavel CHOULEVITCH den Hausknecht Antonio. Nicht zu vergessen die "Bühnenmusik", bestehend aus drei ausgezeichneten, charmanten jungen Damen in Rokoko-Kostümen, Aglaya OULIANOVA (Flöte), Elena VASILIEVA (Harfe) und Xenia ISAEVA (Cembalo). Ja diese Oper ist ein Fest! Champagner!

Das ORCHESTER DEDS MARIINSKI-THEATERS in weißen Fräcken amüsierte sich bestens bei der spritzigen Musik, die Valery Gergiev abschnurren ließ, als ob er zeit seines Lebens nur Rossini dirigiert hätte. Dabei hatte er acht Mal "Tristan"", drei Mal "Boris", sechs Mal Schostakowitschs "Nase" und ein paar Konzerte und Ballette im einem Monat dirigiert! Verrückt! Das Publikum amüsierte sich ebenso wie die Künstler bei dem genialen Geblödel mit fulminanter Musik! Der Applaus war entsprechend: Triumphal! wig.