"JULIETTE OU LA CLE DES SONGES" - 16. Februar 2006

Martinù kam 1923 mit einem Stipendium nach Paris, kein Unbekannter, denn mehrere seiner Komposition waren bereits erfolgreich gespielt worden. Er war nach Frankreich gekommen, um bei Albert Roussel zu lernen, denn er hatte wenig geistige und musikalische Verbindung mit den Zwölftönern der "Wiener Schule". Er dachte aber nicht, daß er fast 20 Jahre in Frankreich bleiben würde, um dann in die USA fliehen zu müssen. Doch diese Zeit wurde für ihn sehr ausschlaggebend. Dank der Beziehungen zur tschechischen Kolonie in Paris um den Dichter V. Nezval und die Maler J. Sima und F. Kupka trat er rasch in Verbindung mit den Surrealisten und Dadaisten.

Die sehr internationale Pariser "Szene" war sehr aktiv, und Verbindungen wurden leicht geknüpft. Überall war sehr viel los, und Martinù schrieb mehrere Ballettmusiken, aber auch Symphonien, Kammermusik und Rundfunkopern. Georges Neveux (aus der Ukraine stammend) schrieb 1930 "Juliette". Doch die Uraufführung in Paris fiel durch. Martinù sah das Stück und war hingerissen. Er begann gleich mit der Vertonung, und nach Bekanntschaft mit Neveux einige Monate später erklärte er ihm, daß er sein Stück als Oper komponiere und lud den Autor zu sich ein, um ihm den ersten Akt vorzuspielen. Neveux war derart begeistert, daß er noch am selben Abend ein Telegramm an den amerikanischen Agenten Kurt Weills schickte, um das Weill versprochene Libretto zurückzuziehen! Vor der Unmöglichkeit einer französischen Aufführung stehend, beschloß Martinù das Stück ins Tschechische zu übersetzen, und "Juliette" wurde am 16. März 1938 im Prager Nationaltheater uraufgeführt. Kurz vor seinem Tod 1959 verfaßte Martinù mit Georges Neveux selbst eine französische Fassung, die erst 1976 in Rouen aufgeführt und 2002 ins Repertoire der Pariser Oper aufgenommen wurde.

Von Handlung kann man in "Juliette" praktisch nicht sprechen. Michel hat sich in eine junge Frau, die er am Fenster singen hörte, verliebt und kommt nun nach drei Jahren wieder in das südfranzösische Städtchen, um das Mädchen zu finden. Alle Einwohner der Stadt haben aber das Gedächtnis verloren: der Briefträger stellt drei Jahre alte Briefe zu, kein Mensch weiß, daß es eine Bahnhof gibt, oder ob das "Hotel des Voyageurs" existiert. Alles bewegt sich in einer psychologischen Zwischensphäre zwischen Traum und Wirklichkeit. Als einzigen Nachhall aus der "alten Zeit" spielt ein alter Mann auf der Ziehharmonika eine Melodie, die immer wieder auftaucht, ebenso wie Juliettes Lied. Juliette ist ebenso von der Amnesie erfaßt, aber umgekehrt: wenn der Souvenirhändler nach dem Liebesduett im 2. Akt mit Fotos auftaucht, glaubt sie auf diesen Fotos Urlaubsbilder mit Michel in Spanien zu sehen. Im 3. Akt verteilt ein sturer Beamter die Träume nach Quoten für Paris, Straßburg, Avignon usw. Der blinde Obdachlose, der am Mittwoch gekommen ist, weil er gestern am Polizeikommissariat seinen Rausch ausschlief, bekommt erst wieder kommenden Dienstag einen Traum, denn Ausnahmen gibt es nicht. Einer nach dem anderen holen sich die Männer ihre Träume ab, aber alle wollen Juliette wiedersehen und klettern durch einen Registerknopf in das Akkordeon, was Michel natürlich nicht sehr schätzt. Es ist ein sehr ungewöhnliches Werk, zumal am Ende des 3. Akts alles genau so wie am Anfang des 1. Akts ist, einschließlich Schläfer und Ziehharmonika, und so sich der Kreis schließt: die Oper könnte neu beginnen. Trotz der unwirklichen, phantastischen Atmosphäre ist der Besucher von dieser Parabel um das "ewig Weibliche" fasziniert.

Ein Vergleich mit anderen Opern der Zeit liegt nahe: in erster Linie Korngolds "Tote Stadt" (1920, nach einem symbolistischen Text von G. Rodenbach) und Poulencs "Les Mamelles de Terésias" (1947, mit surrealistischem Libretto von G. Apollinaire). Auch hier ist die Handlung auf zwei Hauptpersonen beschränkt, das Liebespaar, umgeben von vielen - oft grotesken - Randfiguren, durchwegs sehr charakterisiert und ausgefeilt. Der phantastische, träumerische Charakter dominiert, und Kneipenszenen spielen eine wichtige Rolle. Die Komponisten dieser Opern haben sich nie in die Zwölftönerei verirrt und sind in der musikalischen Tradition ihrer Herkunft verbunden geblieben. Bei Martinù ist das völlig klar, denn an zahlreichen Stellen wird man an Dvorak erinnert, vor allem an die phantastische Traumoper "Rusalka", aber auch an Janacek, wie verschiedene Schrummgeräusche und Klopfthemen bezeugen.

Der Musik seiner Wahlheimat hat Martinù auch seine Reverenz erwiesen, denn Juliettes Lied (immer mit Klavier) könnte ein Chanson sein, wie sie in den zwanziger Jahren in den Cabarets in Montmartre gesungen wurden, während die Kneipentänze sehr böhmisch sind. Martinù schrieb eine für die Traumatmosphäre wunderbar passende und faszinierende Musik, mit impressionistischen oder jazzigen Anklängen, oft von gesprochenem Text unterbrochen, in kleinen Zellen weniger Takte, die plötzlich abbrechen und wieder erscheinen. Diese pointierte Partitur bedarf die größte Konzentration von Seiten aller Musikern - und des Publikums.

Der belgische Musikwissenschaftler (und Biograph Martinùs) Harry Halbreich hat seit der Pariser Erstaufführung vor drei Jahren die ursprüngliche französische Urfassung entdeckt und veröffentlicht. Diese wurde erstmals gespielt, im Gegensatz zu der Rückübersetzung 2002. Jiri BELOHLAVEK dirigierte mit viel Finesse und hörbarer Liebe für das Werk. Er holte aus dem PARISER OPERNORCHESTER sowohl die slawischen Klänge als auch die Schrumm- und Klopfgeräusche heraus und brachte - immer wachsam - eine vorbildliche Verbindung mit der Bühne zustande.

Die andere Urfassung gab zu einigen Umstellungen Anlaß: der Sänger des Michel der Aufführungsserie vor drei Jahren weigerte sich eine neue Fassung zu lernen und mußte in letzter Minute ersetzt werden. Der hervorragende englische Tenor John GRAHAM-HALL erlernte die schwierige Rolle in zehn Tagen (!) und war dank seiner Musikalität, seines nachtwandlerischen Spiels und seiner ausgezeichneten französischer Diktion eine perfekte Inkarnation des Michel. Als Juliette wurde diesmal die junge Russin Elena SEMENOVA verpflichtet, die eine entzückende herzliche Stimme hat und die Angst, die Wirklichkeit zu sehen und zu leben, sehr ausdrucksvoll darstellte.

Die restlichen Rollen sind eigentlich alle nur Comprimari und waren ausnahmslos ausgezeichnet; viele hatten bereits vor drei Jahren gesungen. Neu war Andreas JÄGGI als ausgezeichneter Kommissar, Briefträger und vor allem als Chef des "Zentralamtes der Träume", wobei er eine blendende Karikarur des sturen Bürokraten lieferte; Paul GAY war ein imponierender Mann mit dem Tropenhelm, der gewiefte Souvenirverkäufer und der Sträfling. Alain VERNHES saß wieder am Fenster und sang das alte Lied zur Ziehharmonika, war ein süßes altes Männlein und sehr gut als Obdachloser, der keinen Traum kriegt, weil er einen Tag zu spät kommt. Michèle LAGRANGE war sehr imposant als Handleserin und Vogelhändlerin; Martine MAHÉ als Fischhändlerin und kleine Alte. Christian TRÉGUIER stellte wieder sehr gut den alten Araber auf die Bühne, sowie den alten Matrosen; Gaëlle LE ROI war der kleine Araber und ein Jäger. Sehr gelungen war René SCHIRRER als der alte Père "La Jeunesse". Die zahlreichen Kleinrollen waren durchwegs auf dem Niveau der ausgezeichneten Aufführung.

Das Publikum war zahlreich gekommen und von diesem traumhaften Abend sehr begeistert. Es spendete herzlichen Beifall für diese erstklassige Aufführung. Es ist zu hoffen, daß diese prächtige Produktion in den nächsten Saisonen wieder aufgenommen wird. wig