"ADRIANA MATER" - 18. April 2006 (Uraufführung)

Gérard Mortier hatte bereits vor acht Jahren die Oper "L'Amour de Loin" der finnischen Komponistin Kaija Saariaho für die Salzburger Festspiele in Auftrag gegeben. Seit zwei Jahren ist er Pariser Operndirektor. Das neue Auftragswerk für die Pariser Oper hat das selbe Trio zusammengefunden: die finnische Komponistin Kaija Saariaho, den franco-libanesischen Schriftsteller Amin Maalouf, der das Libretto wieder auf Französisch schrieb, und den amerikanischen Regisseur Peter SELLARS, der für die Dramaturgie sorgte und die Inszenierung machte. Das Team hat sehr intensiv zusammen gearbeitet und hat eines der packendsten Werke der letzten Jahrzehnte geschaffen.

Das Werk spielt "in einem Land im Krieg" - einem Bürgerkrieg - ohne genaue Angabe. Maalouf, der selbst aus dem Bürgerkrieg im Libanon geflohen ist, hat damit umgangen, bezichtigt zu werden, voreingenommen zu sein, und gleichzeitig vermieden in einen derzeitigen Konflikt verwickelt zu werden, von dem man hoffen kann, daß er in einigen Jahren beigelegt sein wird. Es könnte der Libanon oder Kosovo, Darfur oder Irak, Tschetschenien oder Palästina sein, oder eines der vielen anderen vom Bürgerkrieg geplagten Länder.

Der Inhalt ist einfach, aber packend: In der 1. Szene verweigert Adriana herablassend Tsargos, ihrem einstigen Tänzer, eines Abends den Zutritt zu ihrem Haus. Ihre Schwester Refka hat das Gespräch belauscht und wirft Adriana vor, sich mit einem "betrunkenen Nichtsnutz" überhaupt einzulassen: "Einen Skorpion verwundet man nicht, man zertritt ihn mit seinem Absatz, oder läßt ihn ziehen." In der 2. Szene kommt Tsargos, nun mit Kalaschnikow bewaffnet, um aufs Dach zu steigen, um "die Anderen zu beobachten, denn wenn sie bis hierher kommen, werden sie uns alle massakrieren". Adriana verflucht die Krieger aller Länder und Armeen. Tsargos dringt schließlich gewaltsam ein und vergewaltigt Adriana. In der 3. Szene wirft sich Refka vor, das Unheil nicht verhütet zu haben. Adriana ist hoch schwanger und fragt sich, ob ihr Kind "Kain oder Abel" sein würde. Orchestrales Traum-Zwischenspiel. Im 2. Teil, siebzehn Jahre später, wirft Yonas seiner Mutter Adriana vor, ihm die wahre Natur Tsargos' verborgen zu haben, der angeblich als Held im Kampf um das Dorf gefallen sei. Doch Tsargos lebt in einer anderen Gegend des Landes und ist nie in das Dorf Adrianas zurückgekehrt. Yonas schwört, daß er ihn ermorden werde. In der nächsten Szene wird erzählt, daß Tsargos ins Dorf zurückgekommen sei. Yonas kommt dazu und hört das. Er will Tsargos sofort erschießen. Orchestrales Traum-Zwischenspiel.

In der 3. Szene trifft Yonas auf Tsargos, der ihm den Rücken kehrt. Ein Streit entspinnt sich zwischen den beiden, und Tsargos dreht sich um: er ist blind. Yonas ist derartig erschüttert, daß er es nicht über sich bringt, seinen Vater zu ermorden. In der Schlußszene finden sich die vier Personen zusammen auf der Bühne, Yonas bittet seine Mutter um Verzeihung, ihren Vergewaltiger nicht ermordet zu haben. Refka ist wieder von Selbstbeschuldigungen gepeinigt. Schließlich singt Adriana am Ende: "Wir sind nicht gerächt worden, aber wir sind gerettet." Diese Schlußszene erinnert stark an den versöhnenden Charakter des Schlusses der "Frau ohne Schatten".

In sehr poetischer französischer Sprache drückt Maalouf Zweifel über verschiedene allgemeine Meinungen, Ideen und Vorurteile aus: Blut und ethnische Zugehörigkeit, Mörder und Opfer, Rache und Versöhnung, um zu einem sehr humanistischen Schluß des Konflikts zu kommen, denn die Oper endet ja in Versöhnung. Der Text ist zudem ein Hymnus auf die Mutterschaft und unterstreicht die menschliche Seite des Dramas des Krieges. Die Zeitlosigkeit des Dramas ist ungemein packend wie in einer griechischen Tragödie, und man muß oft an die Atriden- oder Oedipus-Tragödien denken. Doch die Zwiespältigkeit der Beziehungen zwischen den vier Personen läßt die Handlung psychologisch sehr offen.

Saariaho unterstreicht diese Zeitlosigkeit und Zwiespältigkeit noch durch ihre Musik mit durchaus singbarer, meist höchst dramatischer Deklamation, die an Debussy und Strauss erinnert, besonders an "Elektra". Selbst sehr lyrische Stellen, wie der ungemein poetische Eingangsmonolog Adrianas sind sehr packend. Saariaho geht jedoch über den expressionistischen musikalischen Diskurs hinaus, denn ihre Stärken sind Klangfarben und das Spiel mit Nuancen. Flatterzunge und glissandi sind vielseits verwendet. Der Chor wird großteils "instumental" verwendet und singt meist nur Vocalisen oder Textfragmente in den Träumen, meistens elektronisch (IRCAM) in den Saal "spazialisiert". Erst am Schluß singt der Chor - auch im Stil des griechischen Dramas - seine Kommentare auf einen Text. Man kommt völlig gebannt und erschüttert aus der Vorstellung.

Die Regie von Peter Sellars ist überraschend einfach und nüchtern, ohne Beteiligung von unnötigen Videokünstlern, wie es bei "Tristan" oder Adams' "El Nino" der Fall war, wo alles von den Videos erdrückt wurde. Georges TSYPIN schuf eine einfache, realistische Szenerie kleiner Steinhäuser mit runden Kuppeln (was vermuten läßt, daß das Stück in einem islamischen Land spielt), die durch eine besonders geschickte Beleuchtung von James F. INGALLS von unten oder seitwärts sehr eindrucksvolle Bilder ergab. Die Kostüme von Martin PAKLEDINAZ waren aufs Minimum beschränkt und sind vom Flohmarkt.

Esa-Pekka SALONEN hatte die musikalische Leitung des Werks seiner Landmännin inne. Er war sichtlich und hörbar in seinem Element, und das ORCHESTER DER PARISER OPER folgte ihm mit Enthusiasmus. Peter BURIAN hatte die schwierige Aufgabe den Vocalisen-CHOR einzustudieren, der das mit eindrucksvollem Erfolg tat. Chor und Chorchef wurden am Schluß mit Recht sehr applaudiert.

Nur vier Sänger bestreiten die Handlung der zweistündigen Oper. In der Titelrolle war die junge irische Mezzosopranistin Patricia BARDON erschütternd, sowohl gesanglich der schweren Rolle völlig gewachsen und darstellerisch absolut perfekt. In der Rolle der von Selbstvorwürfen gepeinigten Schwester Refka konnte Solveig KRINGELBORN überzeugend ihre großen gesanglichen und darstellerischen Fähigkeiten zeigen.

Der "böse" Tsargo, "der miserable Kerl", der Adriana vergewaltigt und am Ende blind wird, selbst ein gewalttätiges Opfer eines unmenschlichen Krieges, wurde von Stephen MILLING tragisch dargestellt und überzeugend gesungen. Adrianas Sohn Yonas, der aus der Vergewaltigung hervorgegangen ist, der seine Mutter rächen und den Vater ermorden will, was er aber dessen Blindheit wegen nicht übers Herz bringt, wurde von Gordon GIETZ mit größtem Einsatz und jugendlicher Intensität dargestellt.

Daß wie in "L'Amour de Loin" keine französischen Sänger für eine französische Oper zu finden waren, ist natürlich eine Schande. Obwohl die Sänger Französisch nicht als Muttersprache haben, war die Diktion trotzdem ausgezeichnet. Ein großer Abend in den Annalen der Bastille-Oper, vom zahlreichen Publikum gefeiert. Hoffentlich ist eine Wiederaufnahme in absehbarer Zeit geplant, denn ein Werk solcher Intensität und Tiefe kann man nicht wirklich nach einmaligem Hören beurteilen oder würdigen. wig.