"SIEGFRIED" - 28. September 2003

Wenn man in Wien so mir nichts dir nichts mitten in den „Ring“ hineinstolpert, dann erwartet man alles und nichts zugleich. Man erwartet alles, weil der Qualitätsanspruch dieses renommiertesten deutschsprachigen Opernhauses nach wie vor „erstklassig“ heißt, nichts, weil man nun fast völlig unvorbereitet einen fünfstündigen Happen Mythos hinunterzuschlingen gedenkt. Aber was soll's? Es ist doch draußen in der Welt wie drinnen im Theater. Oder fast so.

Draußen steht das altehrwürdige Café Sacher, das die Herausforderung der fröhlichen amerikanischen Kette gleich gegenüber noch nicht zu registrieren scheint. Drinnen klagt und zetert bereits Mime, dessen sonniger Ziehsohn Siegfried das traditionelle Schmiedehandwerk des Meisters glatt verhöhnt und schon mal das Schwert Nothung nach eigenem Gutdünken herstellt. Es glückt ihm. So wie ihm folglich auch die Tötung des Drachen glückt, wie er daraufhin mit dem Waldvogel sprechen und nach dessen Weisung wiederum Brünnhilde erwecken wird. Dies alles kann so geschehen, weil Siegfried ohne Furcht ist, weil er nicht im Alten verhaftet ist. Weil er nicht zögert, das Richtige zu tun.

Was man bis zum Ende des zweiten Aktes erlebt, ist eine vortreffliche Komödie, die von Heinz ZEDNIK (Mime) und Wolfgang SCHMIDT (Siegfried) in jeder Hinsicht grandios dargeboten wurde. Heinz Zednik als Mime zeigte in feiner Mischung von außergewöhnlicher Sprachdeutlichkeit, passender Stimmfärbung und schier unerschöpflicher Körpersprache die verschiedenen Facetten des Mime vom armen Zwerg bis zum gemeinen Giftmischer. Wolfgang Schmidt gab überzeugend den ebenso ehrlich-naiven wie draufgängerischen Siegfried. Stimmlich ließ er nur an den wenigen dafür vorgesehenen Stellen mit Heldentenor-Volumen und kraftvoller, dunkel timbrierter Höhe aufhorchen.

Das Auftauchen des Wanderers beruhigte die Szene, hier beeindruckte James MORRIS durch gemessene Stimmschönheit wie durch optische Autorität.

Es ist aber nicht zuletzt der Inszenierung von Adolf DRESEN bzw. dem Bühnenbild von Herbert KAPPLMÜLLER zu verdanken, daß das Stück bis zum Schluß seine lichte Farbe und szenische Klarheit behält. Vom „echt“ glühenden Schwert bis zum spitzzahnigen, mehr Nebel als Feuer speienden Wurm wird einerseits jedes naturalistische Detail als optischer Magnet genutzt, andererseits der über weite Strecken intime und kammerspielartige Charakter des Stückes nie durch Überflüssigkeiten verwässert. Kein Aktionismus der Bühnenpersonen war auszumachen, gleichzeitig blieb die Szene stets in wundersamer Bewegung. Es gab zu schauen, zu hören und zu lachen.

Aber ohne den hervorragend klingenden, ungemein tragfähigen Baß von Walter FINK (Fafner) hätte selbst der naturalistischste Drache sinnentleert in seiner Höhle gelegen. Ebenso tadellos, mit leichter geschmeidiger Stimme ließ sich bald Simina IVAN als wegweisender Waldvogel hören. Die szenische Umsetzung dieses Details konnte allerdings aufgrund des sichtbaren Führungsstäbchens nicht ganz überzeugen. Vielleicht wäre hier etwas weniger Natur mehr gewesen. Der Alberich von Georg TICHY blieb szenisch und stimmlich vergleichsweise blaß, wurde aber im Zusammenspiel mit Mime interessanter und brachte insgesamt eine solide Darbietung.

Im dritten Akt konnte dann dank des musikalischen Stimmungsumschlages auch das STAATSOPERNORCHESTER unter der Leitung von Adam FISCHER in spannungsvoller Klangschönheit zur Geltung kommen. Weich und rund im Klang, wurde das Forte nie sängerunfreundlich und die großen Phrasen des 3. Aktes erhoben sich zu einem exquisiten Wagnererlebnis.

Über die Orchesterwogen hinweg sangen jetzt mühelos nicht nur James Morris, sondern auch Daniela DENSCHLAG als geisterhaft dem Boden entstiegene, weißgekalkte Erda. Klar und artikuliert, dennoch weich strömend bis in die tiefsten Lagen hätte man dieser herausragenden jungen Stimme freilich gerne noch länger zugehört.

Der Großzügigkeit der Musik dieses Aktes entsprach durchaus die Bühne, die nun von raumfüllenden Farben und Linien geprägt war. So begegneten sich Wotan und Siegfried hoch oben auf der leichten quergespannten roten Brücke. Nicht weniger hoch hinaus will schließlich Siegfried mit seiner Mißachtung der göttlichen Autorität.

Und dann endlich der Felsen. Ein weiß leuchtender Feuerstein einsam in der Mitte der Bühne umgeben von weißem Dampf, Rauch oder Nebel. Gleich einem Eisberg, ins kochende Wasser geworfen. Brünnhilde, durch den vokal nun aus dem vollen schöpfenden Wolfgang Schmidt erweckt, wurde von Deborah POLASKI mit gebührender hochdramatischer Präsenz gesungen. Keine Stimme des Abends schien dem großen Orchester in ähnlicher Weise Paroli bieten zu können. Die Intention der Sängerin war hier offenbar tatsächlich nicht auf lyrische Stimmschönheit oder gar Ökonomie gerichtet. Vielmehr stand ganz und gar die Darstellung eines Gottmenschen im Vordergrund, einer wahren Tochter Wotans und Erdas, die - auch der Rüstung entledigt und in Liebe entbrannt - keinen Zweifel daran aufkommen läßt, wer sie ist. „Ewig war ich, ewig bin ich.“ Sie war da, um den ungeborenen Helden zu retten, und sie wird ihn, den Sterblichen, überleben...

Aber das sind andere Geschichten. Die gibt's, wenn ich wieder einmal zufällig in den Dunstkreis des „Rings" geraten sollte... Mascha Ernst