"MARTHA" - 2. April 2006

Zu Beginn muß ich ein Geständnis ablegen: ich habe noch nie "Martha" gesehen! Dabei habe ich in meine Studentenzeit jahrelang in Wien verbracht, und Flotows Welterfolg war regelmäßig im Repertoire der Volksoper. Schande über mich!

Daß Flotow nicht ganz in den Rahmen des deutschen romantischen Komponisten paßt, ist wohl einer der Gründe weshalb er nur "so nebenbei" erwähnt wird, ein "kleiner" Meister, der anmutige Singspiele mit hübschen Arien und schmissigen Chor-Ensembles schrieb, die ausnehmend brillant sind. Doch ist dies vielleicht zu wenig, denn seine Opern sind "durchkomponiert" und nicht mit gesprochenem Text. Die Rezitative sind nicht mit "blam-blam" Begleitung, sondern sehr ausgefeilte Ariosi. Die größten Tenöre haben sich nicht getäuscht und die Arie "Ach wie fromm, ach wie vertraut" in ihr Repertoire aufgenommen.

Die Orchestrierung ist wesentlich inspirierter als die vieler deutscher Zeitgenossen, so wie die reichliche, aber geschickte Verwendung von Blech bereits im Vorspiel, wo das Thema "Martha, du entschwandest" in einem großen Orchestersatz dem Hörer vorgestellt wird. Die wie ein Schicksalsschlag konzipierte blech- und schlagzeuglastige Marktszene "Ist das Handgeld angenommen" verwendet selbst Baß-Tuben! Auch formal sind interessante Kombinationen zu finden, wie das entzückende Duett zwischen Harriet und Nancy im 1. Bild. Ein Strophenlied im 2. Bild wird zuerst von Lyonel wie eine Arie angestimmt, während Plunkettt die 2. Strophe singt und die 3. von beiden gesungen wird. Ein sehr ansprechendes und geschickt gesponnenes Werk eines großen Könners. Flotows mehrjähriger Aufenthalt in Paris in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ist dafür verantwortlich. In Paris lernte er alle Musikstars seiner Zeit kennen und befreundete sich sehr mit Offenbach, dem mittellosen Cellisten aus Köln, den er sehr unterstützte, ihn in die Pariser Salons einführte und mit dem er viele gemeinsame Konzerte gab.

Die Aufführung in der Wiener Volksoper war ausgezeichnet und szenisch sehr gelungen. Obwohl die Handlung der Oper für die Zeit eher sozialkritisch ist (die Gegenüberstellung von Versteigerung und Verkauf junger Mägde und die völlige Unkenntnis des versnobten englischen Landadels der verheerenden sozialen Zustände), haben Regisseur Michael McCAFFERY und sein Ausstatter Julian McGOWAN nicht eine verelendete Produktion geboten, sondern die Lage klar dargestellt. Der Regisseur hat in seinem Interview im Programmheft dies deutlich ausgedrückt und sich von den Bildern Hogarths inspirieren lassen (Bilder, die auch Strawinskys "Rake's Progreß" inspirierten). Das Resultat ist eine sehr glaubhafte Produktion.

Das hellgraue Interieur des etwas verkommenen Schlosses der Lady Harriet im 1. Akt, inklusive beschränkter Hygiene (Nancy wäscht Harrietts Hände mit einem kleinem Schwamm aus einer winzigen Silberschüssel!) ist sehr gelungen. Vom handfesten Markt von Richmond, zur gelungenen Wohnung (über einer Mühle mit drehenden Mühlrädern) des Hauses Plunketts bis zu den brillanten roten Jagdkostümen der königlichen Jägerinnen im 3. Akt, ist alles erfreulich für das Auge. Frank SOBOTTA leuchtete die Aufführung gut aus. Alles paßt blendend zusammen und gibt einen geschlossenen Eindruck ohne Firlefanz, durch eine ausgefeilte Personenführung unterstrichen gut von der Dramaturgin Birgit MEYER nachvollzogen.

Musikalisch war die Aufführung sehr erfreulich. Daß die Aufführung mit ungewöhnlichem Schwung und Brio über die Szene ging, ist in erster Linie der jungen Dirigentin Elisabeth ATTL zu verdanken. Die junge Dame zeigt einen ungewöhnliches Engagement und lebt die Musik buchstäblich den ganzen Abend mit. Ihre höchst präzise Zeichengebung wird vom ORCHESTER und der Bühne gut befolgt. Man hat das Gefühl, daß sie ihre Truppe in ihre Arme schließt. Der CHOR wurde von Michael TOMASCHEK gut einstudiert und geführt.

Auch von den Sängern ist Gutes zu melden. Lady Harriet sang Jennifer O'LOUGHLIN mit angenehmer, gut geführter und tragender Stimme. Zu Beginn schien sie mir etwas nervös zu sein, was sich allerdings rasch legte, und vor allem die Szenen im 2. und 3. Akt waren sehr schön gesungen. Ihre deutsche Diktion ist ausgezeichnet. Ihr Lyonel war ein junger Spanier, Ismael JORDI, ein perfekter tenore di grazia, der seine Bravourarie mit Panache sang, aber auch die Liebes- und Streitszenen bestens interpretierte und darstellte (2. Akt: "Nur ein Spiel?"). Der junge Sänger hat eine sehr entwicklungsfähige Stimme, und man kann nur hoffen, daß er nicht zu früh in zu schweren Rollen "verheizt" wird.

Lord Tristan Mickleford war der über zwei Meter große Christian SIST, der die lächerliche Figur des Cousins und Anbeters Harriets blendend sang und spielte, eine brillante Parodie des englischen Landadels. Harriets Vertraute Nancy, die mit ihr den "Sprung in die weite Welt" wagt, war die aparte Ulrike PICHLER-STEFFEN. Sie spielt ausgezeichnet und besitzt einen schönen, angenehm timbrierten Mezzo, doch trägt die Stimme zu wenig und geht in den Ensembles leider unter. Anton SCHARINGER hat den Papageno weltweit gesungen, und diese Rolle nun an den Nagel gehängt. Er sang den reichen Pächter Plumkett mit guter, bisweilen etwas rauher Stimme, nur die wirkliche Tiefe fehlt. Auch ist sein Spiel etwas outrierte.

Als Richter von Richmond stellte Markus RAAB seinen Mann. Katharina IKONOMU, Katya METODIEVA und Fue Ling AMBROS waren die versteigerten Mägde auf dem Markt, Stefan TANZER, Heinz FITZKA und Daniel STRASSER waren als Diener rollendeckend.

Viel Beifall des vergnügten Sonntagspublikums, das sichtlich die Aufführung genossen hatte. wig.