„PELLÈAS ET MELISANDE“ - 14. November 2004

Das bereits bewährte – wenn auch nicht gänzlich unumstrittene – Leadingteam Franz WELSER-MÖST/Sven Eric BECHTOLF/Rolf und Marianne GLITTENBERG (welchen 2007 an der Wiener Staatsoper der neue „Ring“ und vorgängig eine „Arabella“ anvertraut wurden) brachten am Sonntag Debussys „Pelléas und Mélisande“ zur Aufführung.

Das Werk war auf speziellen Wunsch des ehemaligen Musikalischen Chefs der Zürcher Oper und jetzigen „Principal Conductor“ ins Programm aufgenommen worden, obwohl es wohl allen klar war, daß es kein „Blockbuster“ werden würde. Zu speziell, zu konfus, für manche zu langweilig dürfte es für „Otto-Normalverbraucher“ sein.

Das Haus war demzufolge auch nicht restlos besetzt, und nach der Pause lichteten sich die Reihen stark. Hatte die Inszenierung sie verschreckt? Das Inszenierungsteam mußte ein Bravo- und Buhkonzert über sich ergehen lassen, wobei die Bravo-Rufer meines Erachtens doch deutlich in der Überzahl waren.

Gänzlich unumstritten war die musikalische Leistung. Berechtigte „Bravo“ und starker Applaus für das Orchester und seinen Chef und praktisch alle Sänger, wobei Michael Volle als Golaud als „Sieger“ hervorstach.

Aber eins nach dem anderen:
Die Inszenierung siedelt das Geschehen in einer irrealen (Traum-)Welt an. Die scheinbar banale Dreiecksgeschichte (älterer Prinz verliebt sich in unbekanntes Mädchen, bringt sie nach Hause in ein düsteres Schloß, wo sich der jüngere Halbbruder in sie verliebt. Der wiederum wird dann vom Ehemann ermordet; das Mädchen stirbt, nachdem sie von einer Tochter entbunden wurde, an gebrochenem Herzen) ist jedoch komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Debussy und der Textdichter Maeterlinck waren Künstler, die sich immer von der industrialisierten Welt in eine Traumwelt zurückzogen. Der Text von Maeterlinck ist bisweilen so verrätselt, daß manche Deutung zugelassen werden kann; desgleichen kann man auch von Debussys Musik behaupten.

Ich hatte persönlich am Anfang ziemlich Mühe damit, denn ich versuchte, die symbolträchtige Bildsprache quasi mit dem Verstand zu enträtseln. Auf der Bühne werden die Personen mittels Puppen verdoppelt. In den meisten Fällen wird der Dialog über diese Puppen gesucht; ein sicherlich für die Sänger nicht einfaches Unterfangen, das aber die Beschränktheit der Kommunikation, das Gefangensein der Gefühle, in vortrefflicher und beklemmender Art und Weise zum Ausdruck bringt. Einzig wenn die wahren Gefühle zum Vorschein kommen, suchen die Sänger den direkten Kontakt.

Mich irritierte die scheinbare Unlogik der Inszenierung bis zu dem Zeitpunkt, als ich mich plötzlich in einem Traum wähnte (auch meine Träume sind jeweils so konfus und scheinbar unlogisch!). Der Traum entpuppte sich mit der Zeit als Albtraum; die Inszenierung war aber von diesem Moment an absolut schlüssig. Sie ist für mich schwer in Worte zu fassen und zu schildern (bin gespannt, wie das die Profis machen); sie fuhr bei mir aber voll in die Magengrube. Womöglich hatten die Leute, die sich in der Pause auf den Heimweg machten, später buhten oder sich anschließend lauthals über diesen „Unsinn“ ereiferten, genau damit ihr Problem. Denn wie immer bei diesem Regie-Team war die Inszenierung sehr ästhetisch, sehr genau, auf die Musik gerichtet und liebevoll; aber sie hielt einem bisweilen einen Spiegel vor die Nase und verlangte, daß man sich ihr „hingab“. Die Bewegungen waren meist zeitlupenmässig, was den Eindruck des irrealen Traumes noch verdeutlichte. Die Lösung mit den Puppen eröffnete zudem ungeahnte Möglichkeiten: wenn Golaud Mélisande an den Haaren packt und sie hin- und herschleudert. Eine der stärksten Momente, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Die Inszenierung läßt viele Möglichkeiten offen. Jeder, der sich reinfallen läßt, kann seine Deutungen finden (vom simplen Albtraum über künstliche Intelligenz, fehlgeschlagene Manipulation bis zur Zeichnung von Schizophrenie ist alles denkbar); sie animiert zur Kreativität, zum Gesprächsaustausch, zur Reflexion, und berührt zudem noch. Bestes Singtheater also!

Das Orchester spielte meisterhaft. Selten habe ich die Streicher in einem solch samtenen Klang gehört. Sehr transparent, fein ziseliert, wie das bei Welser-Möst meist der Fall ist, ließ die Musik oftmals aufhorchen. Wagner konnte da unschwer herausgehört werden. Bislang konnte ich mit dem wenigen, was ich von Debussy gehört hatte, nicht wirklich etwas anfangen, und meine Befürchtungen, dieses „komische“ Stück könnte mich langweilen, bewahrheiten sich glücklicherweise absolut nicht. Ich saß gebannt und atemlos da. Die Spannung war bisweilen fast unerträglich.

Das gesamte Sängerensemble war ausgesprochen homogen; alle sangen dieses Konversationsstück überaus textverständlich und auch im französischen Duktus (was ja leider in Zürich nicht immer der Fall ist). Michael VOLLE als Golaud war atemberaubend. Keine noch so kleine Ermüdungserscheinung, wohl tönend im Fortissimo, berückend im Piano – eine, auch schauspielerisch eindrückliche Leistung dieses Künstlers, der immer besser wird. Isabel REY als Mélisande war wiederum eine bezaubernde, naive, berührende junge Frau, die das ganze Spektrum der Empfindungen in die Stimme und den Ausdruck einfliessen ließ. Rodney GILFRY als Pelléas mußte bisweilen mit der extrem hohen Tessitura kämpfen, flüchtete sich hin und wieder ins Falsett und bekundete gegen Schluß einige Mühe mit der Partie, war aber ansonsten ein unwiderstehlicher Gegenspieler von Volle, dem vor allem auch die lyrischen Passagen sehr schön gelang.

Cornelia KALLISCH in der kleinen Rolle der Mutter bestach durch ihr makelloses Französisch, die Sinnlichkeit ihres runden Alts und berückende Piani, und Lászlo POLGÁR (sonst nicht wirklich einer meiner Lieblinge, da er – obwohl mit imposantem und schönem Material ausgestattet – für meine Begriffe zu langweilig singt) gefiel mir als gütiger Großvater ausgesprochen gut. Eva LIBEAU als Yniold und Guido GÖTZEN als Arzt/Schäfer rundeten das vorzügliche Bild ab.

Fazit: endlich wieder eine gelungene Premiere. Auch wenn ich verstehen kann, daß gewissen Leuten eine romantische Deutung besser gefallen hätte, kann ich nicht verstehen, warum man sich nicht auch mit einer solchen Interpretation auseinandersetzt, zumal musikalisch kaum etwas auszusetzen ist. Chantal Steiner