"LA BOHÈME" - 1. September 2005

Die letzte Première der vergangenen Saison, Puccinis "La Bohème", wurde am 2. Tag der neuen Spielzeit gleich wieder aufgenommen, und man merkte es ihr an, daß sie nicht lange "gelegen" hat.

Die Inszenierung des erstmals am Opernhaus engagierten Philippe SIREUIL findet Anklang, auch wenn ich nach vier besuchten Vorstellungen immer noch der Meinung bin, daß neue Erkenntnisse vermißt werden. Sireuil schafft es jedoch, in einer kargen, modernen Bühnenwelt das Stück zeitversetzt zu erzählen, ohne es gegen den Strich zu bürsten. Es ist eine konventionelle Inszenierung, mit viel Liebe zum Detail und einer sehr guten Personenregie. Leider gerät das Eine oder Andere etwas unter die Gürtellinie, manchmal etwas gar plakativ oder unnötig. Verstehen kann ich seine Deutung des 2. Bildes nach wie vor nicht. Warum findet das Ganze in der Karnevalszeit und nicht an Heiligabend statt? Befinden sich die Leute draussen oder drinnen? Vom Ablauf her müßte es draussen sein; warum aber sind alle in kurzen Hemden, warum frieren sie plötzlich nicht mehr?

Gelungen hingegen die Umsetzung der Mansarde. Extrem eng geraten, mit wenig Platz und sehr wenig Requisiten. Ein Dach (das auch im 3. Akt als Bahnhofsdecke benützt wird) verhindert jedoch - wieder einmal - fast die Sicht derjenigen Zuschauer, die sich im 2. Rang etwas seitlich befinden. Diese Enge half jedoch den Sängern, von einem günstigen Standort aus über das mächtige Orchester zu singen, ohne ins Rampensingen zu verfallen. Ebenfalls sehr angenehm war der praktisch nahtlose Übergang zum 2. Bild. Für mich könnte man diesen Teil der Oper jedoch ersatzlos streichen, ist er für meine Begriffe doch nicht unbedingt relevant und musikalisch eher ein Tohuwabohu. Löblich seien jedoch CHOR und KINDERCHOR hervorgehoben, die dieses Durcheinander perfekt zu singen vermochten.

Daß das 3. Bild in einer Bahnhofshalle (das Cabaret ist offensichtlich eher ein Freudenhaus) spielt, störte nicht weiter. Reisende gibt es an jedem Bahnhof, denen Musetta das Singen beibringen könnte, und auch am Bahnhof kann es Zöllner geben, auch wenn es so dem Text nicht ganz entspricht. Die Umsetzung kann im Grossen und Ganzen als gelungen, wenn auch als eher konventionell beurteilt werden; ein Meisterwurf ist es aber bestimmt nicht.

Die spielfreudige Sängergilde bestach durch hervorragendes Agieren. Die Komik kam ebenso zum Zug wie die Tragik, und musikalisch konnte kaum etwas ausgesetzt werden.

Cristina GALLARDO-DOMAS' Mimi war wiederum absolut bestechend, vielleicht sogar noch etwas naiver, märchenhafter, romantischer, verzweifelter als an der Premiere. Sie konnte alle Schattierung mit ihrer Stimme und der Interpretation ausdrücken. Auch in den glücklichen Momenten schwebte die Melancholie immer um sie. Ihr Sterben war überwältigend - berückende Piani, welche fast im Unhörbaren erstarben, genial untermalt vom Orchester, das sich bis zum Äußersten zurücknehmen konnte.

Marcello GIORDANIs Leistung war wiederum eher zwiespältig. Sein Timbre (meist mit einem Schleier belegt) ist nicht wirklich mein Geschmack; nachdenklicher stimmte mich aber, daß er bisweilen etliche Mühe in der Höhe (eng) hatte, die Stimme im Piano nicht wirklich ansprach und zuweilen sogar abbrach und oftmals nach hinten rutschte. Differenzierung ist nicht unbedingt seine Sache, im Fortissimo blüht die Stimme auf. Trotz der nicht umwerfenden Leistung empfand ich die vereinzelten Buhs als nicht gerechtfertigt.

Elena MOSUC verkörpert die Musetta mit viel Temperament, draufgängerisch, kokett, frivol und selbstsicher. Ihre Wandlung im letzten Bild war von einer anrührenden Sensibilität. In ihrem Zwist mit Marcello in der Bahnhofshalle flogen musikalisch so die Fetzen, daß es richtig Spass machte! Giuseppe SCORSIN als Lover Alcindoro chargiert für mein Empfinden wiederum zu stark, so daß dieser Charakter einen debilen Anstrich erhält.

Mit dem Marcello bewies Michael VOLLE hingegen wiederum, was für ein prächtiger Sängerdarsteller er ist. Er setzte mit seinem warmem, farbenprächtigen Bariton starke Akzente und vermochte jederzeit voll zu überzeugen. Die restlichen Bohémiens, Lászlo POLGAR (Colline) und Cheyne DAVIDSON (Schaunard), rundeten stimmig das Quartett ab.

Das ORCHESTER DER OPER ZÜRICH vermochte die Leistung der Premierenserie fortzusetzen. Franz WELSER-MÖST dirigiert einen "entschlackten" Puccini, mit einer ausgeprägten Dynamik (feinste Piani lösen Fortissimi, welche bisweilen die Akustik des Opernhauses an ihre Grenzen bringen, ab), die Spannungsbögen sind brillant ausgearbeitet. Zu keiner Zeit wird es langweilig, und trotz der transparenten Lesart kann man die Sinnlichkeit spüren und im Klangteppich Puccinis "baden", ohne daß dieser aber pastos wirkt. Bei jedem Mal ergeben sich dadurch neue Erkenntnisse in der Partitur. Schade, daß die "Bohème" im Frühjahr nicht mehr vom neuen Generalmusikdirektor geleitet wird! Chantal Steiner