"PETER GRIMES" - 23. Dezember 2005

Die vierte Vorstellung, die ich besuchte, packte mich genauso wie alle vorherigen. Hin und weg war ich vor allem von Christopher VENTRIS in der Titelrolle. Es ist einfach unglaublich, was der Mann nach so vielen Vorstellungen in so kurzer Zeit (6 Mal in knapp 14 Tagen, Probenzeit nicht eingerechnet) noch auf die Bühne bringt. Er verkörpert den rauhen Seemann genauso perfekt wie den von Zweifeln geschüttelten Paria, er ist ein Peter Grimes, der die Partie in jeder Situation singt. Seinen großen Monolog im dritten Akt vermag er sogar noch mit umwerfenden Pianissimo-Tönen auszustatten… Eine gewaltige Leistung, die einen immer wieder zutiefst aufwühlt; für meine Empfinden schlichtweg sensationell. Auch die Handhabung der englischen Sprache war eine Meisterleistung: jedes Wort konnte verstanden werden (bei ihm hätte es die Übertitel, die das Opernhaus gottlob neuerdings immer einblendet, nicht gebraucht!).

Die Ellen Orford von Emily MAGEE steht ihm jedoch in fast nichts nach. Auch sie brachte stimmlich jede Nuance ihrer Rolle zum Ausdruck, und auch darstellerisch vermochte sie der Person Naivität, Liebreiz, Engagement, Zerrissenheit einzuhauchen.

Den gutmütigen, bisweilen bärbeißigen Captain Balstrode konnte Alfred MUFF darstellerisch glaubhaft verkörpern Stimmlich vermißte ich jedoch die Kantabilität. Er verfiel mir zu stark in Sprechgesang und sein (Schweizer) Akzent fiel gegenüber den beiden Hauptprotagonisten sowie dem Richter Swallow von Richard ANGAS sehr stark ab. Angas verfügt zwar über keine schöne Stimme im eigentlichen Sinn, vermag aber stimmlich und darstellerisch die Rolle voll auszufüllen und auszukosten. Er ist sich auch nicht zu schade, lächerlich zu wirken, wenn er auf allen Vieren den "Nichten" nachstellt.

Diese werden lasziv von Sandra TRATTNIGG und Liuba CHRUCHROVA rollendeckend verkörpert. Warum allerdings niemand Sandra Trattnigg davon abhält, im ansonsten sehr homogenen Frauenquartett am Ende der 1. Szene des 2. Aktes ihren Spitzenton auszusingen, bleibt mir ein Rätsel. In allen Vorstellungen inklusiv der Generalprobe hat sie den so sehr versiebt, dass einem die Ohren schmerzten…

Die Nebenrollen sind alle hervorragend besetzt: "Auntie" (Liliana NIKITEANU) ist nicht nur tüchtige Wirtsfrau und frivoles Wesen, sondern auch eine Frau mit Herz. Der Quacksalber Ned Keene wird kraftvoll von Cheyne DAVIDSON verkörpert, während Martin ZYSSET einen salbungsvollen, bigotten Pfarrer gibt. Herrlich komödiantisch ist Cornelia KALLISCH als drogenabhängige Mrs. Sedley, während Rudolf SCHASCHING als methodistischer Eiferer Bob Boles für mein Empfinden etwas fehl am Platz ist.

Die Regie von David POUNTNEY findet in einem Einheitsbühnenbild statt. Der gesellschaftliche Mief ist optisch sehr gut dargestellt und beklemmend: an zwei Säulen, auf zwei Etagen in der Höhe sitzen die Bewohner des Dorfes bei ihren täglichen Tätigkeiten und schauen auf die hilflosen Versuche Grimes' hinab, sich zu befreien. Die Bühne ist etwas überfrachtet und lenkt bisweilen etwas ab.

Doch die Personenführung ist hinreißend und bis ins letzte Detail durchdacht. Der hervorragende CHOR darf sich wieder einmal auch schauspielerisch betätigen, was er mit Hingabe tut. Für Pountney ist Grimes ganz klar ein Opfer; er klagt die Gemeinschaft an und läßt Grimes auch optisch "sein Kreuz tragen". Eine aufwühlende Deutung.

Das gleiche gilt es von der musikalischen Seite zu sagen: Grandios und inspiriert spielt das ORCHESTER DER ZÜRCHER OPER unter der Leitung seines Chefs Franz WELSER-MÖST. Er ziseliert, erzählt und illustriert das Geschehen mit großer Eindringlichkeit. Er läßt die Naturgewalten explodieren, untermalt lyrische Stimmungen; die Spannung wird in jeder Sekunde gehalten.

Eine eindringliche Produktion, die keine Wünsche offen läßt und gewaltig unter die Haut geht. So stark, daß ich sie mir leider nicht allzu oft anschauen/anhören kann. Chantal Steiner